Feuersteins Drittes
Länge Norwegens, nur kurz vor dem Ziel braucht man immer noch eine Autofähre, da das Kap auf einer vorgelagerten Insel liegt. Vorher war das Schiff die einzige Verbindung hierher, und den Steilweg musste man mühsam zu Fuß erklimmen.
Am Ende aller Wege ist immer ein Parkplatz, wahrscheinlich auch vor dem Eingang zur Hölle. Bestimmt haben die norwegischen Behörden jahrelang darüber gegrübelt, wie sie damit umgehen sollten: einerseits eine karge, empfindliche Landschaft zu schützen und gleichzeitig Zehntausende Autos im kurzen Sommer unterzubringen, die hier stehen bleiben MÜSSEN, weil Europa einfach nicht mehr weitergeht. Die Lösung ist originell, wahrscheinlich sogar brillant, aber im Ergebnis schrecklich.
Der Parkplatz muss sein. Aber er ist so geschickt angelegt, dass selbst Doppeldeckerbusse aus dem Blickfeld verschwinden, wenn man nur ein paar Schritte geht. Dann ist man in der freien Natur, denn alles andere, die Restaurants, die Ramschläden, die Toiletten, die Besuchermassen, ist unsichtbar innen im Fels versenkt. Über vier Stockwerke tief hat man eine Bunkerstadt geschaffen, schaurig, aber sinnvoll. Man wandert durch Schächte und Korridore, im Kinosaal sieht man in Mehrfachprojektion und auf Breitwand, wie schön es draußen ist, alle vier Jahreszeiten alle dreißig Minuten, für jeweils 200 Zuschauer. Wir marschieren an Schaukästen vorüber, in denen das alte Walfängerleben dargestellt ist, und wundern uns über die vielen Thailänder, die hier ehrfurchtsvoll fröstelnd durch die Betonröhren schleichen, bis wir hinter einer Biegung auf ein kleines Museum für den thailändischen König Bhumipol stoßen, Rama IX., der vor vier Jahrzehnten hier zu Besuch war.
Irgendwann, nach all diesen Gängen, Röhren und Treppen, steht man dann plötzlich wieder im Tageslicht, aber nicht im Freien, sondern in einer überdimensionalen Halle, deren Nordwand ganz aus Glas besteht, direkt aus dem Felsen gebrochen, der fast senkrecht ins Meer fällt. Hier kann man sich ins Restaurant setzen oder ins Cafe oder einfach nur an der Glasscheibe stehen und die Sonne bewundern, die sich mit Hilfe von Herrn Neuenfeld selig pünktlich eine Stunde vor Mitternacht aus den Wolken befreit hat. Und man könnte es sogar genießen, trotz der tausend Menschen rundherum, wäre da nicht diese schreckliche, unerträgliche Musik. Natürlich ist es schön, ja, bewundernswert, wenn sich Ureinwohner, statt Ramschläden zu betreiben, zu einer Musikantengruppe formieren und »Yesterday« von den Beades spielen... aber nie zuvor hatte ich diese liebliche Schnulze so grauenhaft falsch gehört. Nicht einmal von meiner Frau, wenn sie Klavier spielt.
Fast hätten wir die Mitternachtssonne verpasst, denn auf dem Weg zum Ausgang wollten wir eine Ansichtskarte kaufen. Und dann steckten wir fast eine Stunde lang im Ramschladen fest, in der Schlange vor der einzigen Kasse, weil der Computer ausgefallen war und die gute Kassiererin aus hundert Währungen der Welt mit Bleistift und Papier die richtigen Summen errechnen musste. Dazu schrillte nach jedem Kunden die Diebstahlswarnung, und aus der Ferne hörten wir »Yesterday« in der Rentier-Fassung. Wieder einmal war ich in einer der vielen Kammern, die in der Hölle für mich vorbereitet werden...
Draußen, in der ebenen, baumlosen Heidelandschaft des Hochplateaus, vergisst man schnell, dass man über den Köpfen einer Bunkerstadt wandelt. Und so erlebten wir gerade noch rechtzeitig die Mitternachtssonne auf dem Nordkap. Bei wolkenlosem Himmel, in voller Pracht. Die letzte dieser Reise. Heute wird die Sonne kurz nach Mitternacht zum ersten Mal seit vier Tagen wieder untergehen.
LOGBUCH 16. JULI
Wechselnder Kurs vor den norwegischen Fjorden
11°, neblig-trüb; Barometer 1002
Sonnenaufgang 3:28, Sonnenuntergang 23:04
Jeden Tag feiert mindestens einer auf unserem Schiff Geburtstag, was ja bei 572 Passagieren statistisch zwingend begründet ist: 1,57 Geburtstage sind täglich fällig. Es passiert beim Abendessen, nach dem Hauptgang. Dann wird der Saal verdunkelt, der Schlagzeuger fetzt einen Tusch, und eine feierliche Prozession schlängelt sich durch die Tischreihen: Musiker, Kreuzfahrtdirektor mit Gefolge, Servierpersonal und Koch mit hochgehaltener Torte und brennenden Wunderkerzen, dazu Luftschlangen (aber kein Konfetti, weil das immer den Champagner versaut), und der ganze Saal singt »Happy Birthday«. Licht an und Nachtisch.
So war es jedenfalls in der ersten Tagen. Inzwischen singen
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