Feuersteins Drittes
früh zu Ihrer Lesung kommen soll, wo doch heute am Nordkap garantiert die ganze Nacht durchgefeiert wird?« Stimmt, morgen um zehn Uhr habe ich meine letzte Lesung. Skandal!
Aufgestachelt von Frau Immendorfs Empörung bin ich schon unterwegs zur Kabine, um meiner Frau zu verkünden: »Wir packen und reisen ab!«, als mir Frau Neuenfeld in den Weg tritt, eine andere, noch reichere deutsche Witwe. Sie lächelt stets freundlich, aber nie persönlich, wie man es eben tut, wenn man mehrere Mietshäuser und eine 400-Quadratmeter-Villa an einem bayerischen See hat (wo sie aber nur selten residiert, weil sie fast immer unterwegs ist) samt Hausdame, Gärtner und Chauffeur. Sie ist eine Dame von Welt, noch gediegener gekleidet als die anderen deutschen Witwen, noch diskreter im Auftreten, noch anspruchsvoller in Bildung und Kultur, aber stets gelassen und sanftmütig. Kein Wunder: Wenn ihr was nicht passt, könnte sie das Schiff kaufen und den Käpt’n feuern, da lässt es sich leicht gelassen sein.
Auch Frau Neuenfeld hatte meine beide Lesungen besucht, und sie mag sogar meine Frau, was die anderen Witwen nur selten tun, weil die mich alle heiraten wollen, und da stört die Ehefrau ja nur. Aber Frau Neuenfeld braucht mich nicht zu heiraten, denn sie ist nie allein. »Ich spüre, dass mein Mann auf meinen Reisen immer dabei ist«, gestand sie mir bei der Ausfahrt aus Longyearbyen mit liebevollem Blick nach oben. »Er schiebt für mich die Wolken weg.« Zwar schien Herr Neuenfeld gerade mit Jauchzen und Frohlocken beschäftigt 2u sein, denn es tobte immer noch dieser eklige Sturm, aber immerhin: Zum Landausflug hatte die Sonne geschienen.
»Ich werde mir künftig jedes Ihrer Bücher kaufen«, sagt sie jetzt, und ich bin überwältigt. Mein Lebensabend ist gesichert, und ich verspreche ihr, ab sofort monatlich eines zu schreiben.
Ob meine Frau auch mal so eine Witwe wird? Mit dem toten Mann im Reisegepäck und so viel Herz für junge Dichter? Gefiele mir nicht schlecht, und ich beschloss, nach meinem Tod auf ihren Reisen ebenfalls die Wolken wegzuschieben... auch wenn es aller Wahrscheinlichkeit nach Schwefelwolken sein werden. Nur die 400-Quadrat-meter-Villa am bayerischen See mit Hausdame, Gärtner und Chauffeur fehlt uns noch. Aber vielleicht klappt’s damit in ihrer nächsten Ehe. Ich werde selbstverständlich auch dann noch schieben, zusammen mit meinem Nachfolger.
Hoffentlich kommt morgen jemand zu meiner letzten Lesung...
LOGBUCH 15. JULI
Seetag, Kurs S entlang der norwegischen Küste
7°, neblig-trüb; Barometer 1002
kein Sonnenaufgang, Sonnenuntergang 0:20
Frau Immendorf hatte Recht. Kein Schwein ist zur Lesung gekommen. Gerade mal dreißig Leute. Peinlich. Wir hätten wirklich vorher abreisen sollen, gleich gestern, oben auf dem Nordkap. Standen ja etliche Autos aus Deutschland auf dem Parkplatz, eins sogar aus Duisburg, gar nicht weit weg von zu Hause.
Wie kann man auch nur so bescheuert sein, für zehn Uhr vormittags eine Lesung anzusetzen, im großen Kinosaal noch dazu, wenn die Leute erst um zwei Uhr nachts vom Landausflug zurückkommen und anschließend eine Fete geschmissen wird? Wenn ich das bloß vorher gewusst hätte! Hiermit beschließe ich, NIE WIEDER auf einem Schiff Lesungen zu halten.
Das Ekelwetter der Bäreninsel hatte sich gestern in den letzten hundert Seemeilen vor dem Festland beruhigt, Europa schien uns willkommen zu heißen. Das Abendessen wurde schon eine Stunde früher serviert (»leger«), und zum Nachtisch, Punkt acht, ankerten wir in der Bucht von Skarsvag. Mit unseren edlen Beibooten wurde ein Shuttle-Service eingerichtet, am Pier wartete schon die Buskolonne für die Nordkap-Tour. 69 Dollar pro Person, ein bisschen viel für nichts als eine Busfahrt von gerade mal 50 Kilometern hin und zurück, aber dafür ohne Klo-Stopp, und das ist ja auch was wert... dachte ich wenigstens, bis wir vor dem Zelt angeblicher Ureinwohner hielten, der Samen oder Lappen 7 . Es war natürlich ein Ramschladen, ohne Klo, dafür aber mit Rentier, mit dem man sich gegen eine Spende 8 gemeinsam mit dessen Besitzer fotografieren lassen konnte. Wir hielten nicht mal fünf Minuten, weil diese dummdreiste Albernheit selbst den Süchtigsten unserer amerikanischen Souvenirjäger zu viel war.
Eine halbe Stunde dauerte unsere Fahrt ans Ende Europas, hinauf auf das gewaltige Felsplateau in 300 Metern Höhe. Erst seit 50 Jahren gibt es auch dieses allerletzte Stück der Straßenverbindung über die ganze
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