Feuersteins Drittes
Trinkgeld als festen Betrag in der Rechnung der Bord-Extras zu verankern, aber weil es so viele Beschwerden gab, kehrt man inzwischen nach und nach zur Freiwilligkeit zurück — was aber auch nicht so recht funktioniert, da viele Superreiche nie in ihrem Leben mit Bargeld zu tun haben und deshalb gar nicht wissen, was man damit anfängt. Erst gestern hatten wir beim Abendessen darüber geredet. »VON MIR KRIEGT JEDER WAS!«, hatte Frau Dorsch geschrien, und die Leute am Nebentisch waren erschrocken zur Seite gerückt, weil sie dachten, sie redet von einer ansteckenden Krankheit.
Wie wohl Frau Neuenfeld damit umgeht? Leider kann ich sie nicht fragen, denn sie ist heute früh abgereist. Per Zug nach Oslo, und von dort mit dem Flugzeug über Frankfurt nach Venedig, wo sie heute Abend ihre nächste Kreuzfahrt antritt. Ins Schwarze Meer. Hoffentlich ist ihrem himmlischen Gatten diese Route zu kompliziert, und er reist ihr erst morgen auf direktem Weg nach. Dann könnte er sich vorher um anständiges Wetter für unseren letzten Seetag kümmern.
Strahlend schien die Sonne, als wir Punkt 17 Uhr Bergen verließen. Fast alle Passagiere standen achtern steuerbord 10 an Deck, um diese Traumkulisse noch einmal zu genießen. »BERGEN IST SCHÖN!«, schrie Frau Dorsch, und wir alle nickten.
LOGBUCH 19. JULI
Seetag, Kurs S auf Dover
14°, stürmisch bis Windstärke 7; Barometer 1003
Sonnenaufgang 4:29, Sonnenuntergang 21:04
Der unselige Herr Neuenfeld ist doch schon gestern mit seiner Witwe abgehauen. Mit der Einfahrt in die Nordsee hatte sich das Wetter dramatisch verschlechtert: Windstärke 7 zeigte die Beaufort-Skala heute Vormittag, das sind Böen bis zu 60 Stundenkilometern. »Steifer Wind«, sagen die Seebären in gewohnter Untertreibung dazu, aber für mich war das ein brüllender, alles vernichtender Orkan. In das wilde Rauf-runter-Schaukeln, das schon ab Windstärke 4 meinen Lebenswillen dämmt, mischte sich ein unregelmäßiges Hin-und-her-Kippen, und ich wurde unendlich seekrank. Vielleicht nicht ganz so akut wie damals zwischen Neapel und Stromboli, aber dafür anhaltend, endgüldg und hoffnungslos. Ich muss daher gestehen, dass dies kein originaler Eintrag im Logbuch ist, sondern eine spätere Bearbeitung, als ich längst wieder zu Hause war. Die echte Logbuch-Seite unseres letzten Seetags ist unbrauchbar — nur ein paar schwer leserliche Wortfetzen, sowie testamentarische Hinweise und getrocknete Kotze.
Da ich mich schon zu Reisebeginn so gründlich mit dem Kapitän ausgesprochen hatte, mogelten wir uns beim gestrigen Abschied an der Audienz schlänge vorbei — ein Erinnerungsfoto hatten wir ja schon von der ersten Begegnung. Zielstrebig steuerten wir unseren Tisch an, wo auch die Dorschs schon saßen. Sie hatten ebenfalls auf ein Abschiedswort mit dem Käpt’n verzichtet, denn: »DER HÖRT OHNEHIN NICHT ZU!«, schrie Frau Dorsch. »Das ist gar nicht möglich, bei Ihrer Stimmkraft«, hätte ich fast gesagt, unterließ es aber. Warum soll ich boshaft sein? Die beiden waren 17 Tage lang wunderbare Tischnachbarn gewesen, zurückhaltend, unaufdringlich und in sich gefestigt, und da sie nicht mal den üblichen Austausch von Adressen vorschlugen, hatte ich sie in mein Herz geschlossen: Freunde fürs Leben, die man nie mehr wieder sieht. Meine Lieblingskategorie.
Ich bin kein Genießer, sondern ein ungeduldiger Gierfraß, und empfinde deshalb Galadinner als besonders heimtückische Art der Folter. Wie immer hatte ich schon bei der Hauptspeise vergessen, was es zum Anfang gegeben hatte, doch der Nachtisch wird mir ewig im Gedächtnis bleiben: das gigantische Eismeer-Eisbomben-Feuerwerk.
Der Saal wurde verdunkelt wie beim Geburtstagsständchen, und zu den Klängen einer leicht polnischen Version von »When the Saints go marchin’ in« zogen unsere Scheinheiligen aus Küche und Keller ein, das gesamte Servierpersonal vereint mit den Köchen, die märchenhafte Dessert-Kreationen schleppten und hoch über den Köpfen eine Eislandschaft trugen, aus der ein Vulkan sprühte. Dazu Wunderkerzen und die Fahnen aller Nationen, die an Bord vertreten waren, allen voran unsere fröhliche Servierdame Sonja aus Graz, die die deutsche Fahne schwenkte und deshalb besorgte Blicke unter uns Ängstlichen auslöste, ob vielleicht Jörg Haider ein Staatsstreich gelungen war, während wir ahnungslos im Eismeer dümpelten. Aber der allgemeine, redlich verdiente Jubel, den nicht mal die Stimme von Frau Dorsch übertönen konnte,
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