Feuersteins Ersatzbuch
Feinwerkzeug gegen den Erzfeind der Kinematografie: den Wackelkontakt. Erik ist nicht viel größer als ich, isst aber die zehnfache Menge und wird trotzdem nicht dick. Das ist das Geheimnis der Athleten: Sie verströmen allein durch ihr Aussehen so viel Kraft, dass die Kalorien gar keine Chance haben, sich in Fett zu verwandeln — sie wirbeln statt dessen unverbrannt durch die Luft und verwandeln sich in Pheromone, die andere Menschen entgegen allen Gesetzen der Ästhetik dazu zwingen, den Muskelprotz zu bewundern (wobei Frauen dafür deutlich weniger anfällig sind als Männer, egal ob hetero oder schwul; Frauen bevorzugen den Duft melancholischer Resignation, das Aroma tragischer Überlegenheit, jedenfalls die Frauen, die auf mich stehen — von den anderen weiß ich zu wenig, und die interessieren mich auch nicht). Immer wieder staunte ich jeden Morgen über Eriks gigantische Frühstücksmengen, zumal er schon am Vorabend alles vertilgt hatte, was wir anderen vom Abendbrot übrig ließen, und ich fragte mich, wie ein einziger Magen das alles verkraften kann. Aber vielleicht hat er vier Mägen, was ja auch begründen würde, dass er so wenig redet: Erik ist ein Wiederkäuer und muss seine Mundbewegungen für die Verdauung sparen.
Der Dritte am Frühstückstisch bin ich, als einziger stets blendend gelaunt, höflich, freundlich und voller Energie und Tatendrang — komisch, dass dies außer mir keiner bemerkt hat und sich niemand daran erinnern kann. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich nicht zu sehen bin, weil ich mich beim Frühstück mit Zeitungen einhülle — weniger aus Informationsbedürfnis als zur Abschirmung, damit ich nicht schon am frühen Morgen Wolpers anschauen muss.
Stephan Simon, der menschliche Teil unserer Kameraausrüstung, ist gewöhnlich der Letzte. Er hat den gesunden Schlaf der fünf Biere nach dem Abendbrot und braucht, wie jeder, der sein Tagewerk mit Absackern beendet, des Morgens viel Kaffee und Süßes. Die Kamera hat er auch am Frühstückstisch bei sich; sie muss immer in Sichtweite sein, wie bei eifersüchtigen Ehemännern die Gattin, die man ja auch nicht irgendwo abstellt, wo man sie nicht beobachten kann.
An dieser Stelle bricht Wolpers, der bis dahin die wohlverdiente Morgenmahlzeit von uns Werktätigen angewidert (aus der kulinarischen Sicht des Röhrenwurms) beobachtet hatte, gewöhnlich das Schweigen. »Guten Morgen, Leute«, beginnt er aufgesetzt fröhlich, aber keiner hört ihm zu. »Ich bin der Produzent, erinnert sich jemand?« Keinerlei Reaktion. Salz und Brötchen werden durch ihn hindurch gereicht, da wir ihn gar nicht wahrnehmen. Zum Glück ist er nicht lästig und gibt schnell auf. »Ich bin wirklich der Produzent«, murmelt er meistens noch, gewissermaßen als Versuch, sich das wenigstens selber einzureden. Dabei wirkt er so überzeugend wie der gefeuerte Trainer einer Abstiegsmannschaft beim Pausenstand 0:10. Trinkgelder, die er auf den Frühstückstisch gelegt hat, werden ihm von den Kellnern regelmäßig zurückgegeben.
Es folgt der Auftritt des Fahrers, um uns zum ersten Drehort abzuholen, sowie der örtlichen Aufnahmeleitung, letztere meist in Gestalt einer burschikosen Frau zwischen 30 und 40 mit Filmerfahrung und Partnerproblemen, die mich bei der Ankunft am Flughafen zwar herzlich begrüßt hat, aber mir spätestens nach dem dritten Drehtag den Tod wünscht. Sie präsentiert uns gewöhnlich die erste Krise des Tages: Der Pilot hat abgesagt, für die Teufelsaustreibung gibt’s keine Drehgenehmigung, und der Rodeo-Stuntman hat ein Furunkel am Hintern — der gesamte Tagesdrehplan muss also geändert werden.
Die zweite Krise folgt auf dem Fuß: die Sitzverteilung im Kleinbus. Stephan, unser Auge, will natürlich dort sitzen, wo er den besten Blick über die Landschaft hat, um sofort »Stopp!« zu schreien, wenn ihm ein Drehort zusagt; dieser Platz kann vorne, hinten oder auf jeder Seite sein, je nachdem, wo die Landschaft gerade Lust zur Darstellung hat — was im Ergebnis bedeutet: Stephan sitzt auf alle Fälle falsch und muss deshalb ständig den Platz wechseln. Wolpers hat als verantwortlicher Produzent das gleiche Bedürfnis und will zumindest das sehen, was Stephan übersieht, was aber absolut nichts bringt, da der letztere niemals etwas drehen würde, das er nicht selber entdeckt hat... da kann sich Wolpers die Lippen schaumig reden. Ich wiederum bestehe darauf, dort zu sitzen, wo Wolpers sitzen möchte, allein aus Gründen der Rangordnung.
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