Feuersteins Ersatzbuch
Letztere würde zwar erwarten lassen, dass ich vorne neben dem Fahrer sitze, doch steht dieser Platz sinnvollerweise der Aufnahmeleiterin zu, die ja für die Strecke verantwortlich ist — und nichts hasse ich mehr, als wenn Fahrer und Führer über meine Sitzreihe hinweg über die Fahrtroute streiten... allein der viele Speichel, der dabei hin und her fliegt. Nur der Platz von Erik ist festgelegt: direkt an der Schiebetür, damit er schon draußen ist und das Stativ aufgebaut hat, bevor Stephan das Wort »Stopp« auch nur denkt.
Im Ergebnis sieht das so aus: Ich sitze ganz hinten, um meine Ruhe zu haben, aber nicht neben Wolpers. Stephan sitzt in der zweiten Reihe links, aber nicht neben Wolpers, weil neben Stephan immer die Kamera liegen muss. Erik sitzt an der Tür, aber nicht neben Wolpers, weil er Platz für das Stativ braucht. Und die Aufnahmeleiterin sitzt sowieso nicht neben Wolpers, weil sie neben dem Fahrer sitzen muss. Mit anderen Worten: Wolpers sitzt immer allein in einer eigenen Reihe. Ist keine solche vorhanden, liegt er hinten quer über dem Gepäck oder wird auf dem Dachträger festgezurrt.
Die Klimaanlage (an oder aus) bietet Anlass für die dritte Krise, die Fenster (auf oder zu) für die vierte, die Rauchpause (jetzt oder später) für die fünfte, und noch mal drei Krisen gehen auf das Konto des Musiksystems: ein oder stumm, Radio oder Kassette, laut oder leise. Mindestens acht Krisen also jeden Morgen, bevor wir auch nur einen einzigen Zentimeter gedreht haben.
Das hört sich im Rückblick ganz amüsant an, und ich muss zugeben: Bei der Erinnerung an die einzelnen Drehtage kam mir tatsächlich häufig das Schmunzeln. Aber nur anfangs, bei den ersten fünf. Dann verging mir das Lachen. Ab der zehnten Erinnerung setzte Würgreiz ein, und ab der zwanzigsten waren nur noch Hassgefühle übrig, die mich dazu zwangen, auf der Stelle Wolpers anzurufen und zu beschimpfen. Auch nachts. (Auch jetzt schon wieder.)
Ich fasse zusammen: Fünfzig Tage behandelte das erste Buch, mal acht Morgenkrisen... macht insgesamt 400 schon vor dem täglichen Drehbeginn, gefolgt von weiteren tausend während der Arbeit — und an jede einzelne musste ich mich beim Schreiben erinnern, zehntausend oder noch mehr insgesamt. Ist so etwas einem Menschen zumutbar? Ist das nicht Folter? Ein Fall für Amnesty International ? In diesem Sinne frage ich Sie, liebe Leser, die Sie nach diesen wenigen Seiten vielleicht ein bisschen Sympathie für mich entwickelt haben: MUSS ICH MIR DAS ALLES FÜR DAS ZWEITE BUCH NOCH EINMAL ANTUN?
Schön, versprochen ist versprochen, und so steht es auch klar und eindeutig auf Seite 206 von Feuersteins Reisen. Aber wir wissen nur zu gut, wie das mit solchen Versprechen ist: Man macht sie aus der Emotion des Augenblicks heraus, aus Freude oder Angst, Überschwang oder Schuldgefühl, gesteuert von irgendwelchen lächerlichen, unkontrollierbaren Hormonausschüttungen. Naht dann die Zeit des Einlösens, beginnt der Konflikt: Der Zwang zur Erfüllung und die gleichzeitige Unlust geraten in immer heftigeren Widerstreit; der Leidensdruck wächst, man wird menschenscheu und mürrisch, bösartig verklemmt und mimosenhaft empfindlich, mit zunehmender krimineller Energie: eine Gefahr für Staat und Familie. Nur gut, dass ich immer schon so war, da sieht man wenigstens äußerlich nicht die Veränderung. Aber innerlich bin ich längst ein Dampfkessel kurz vor der Explosion.
So geht das jetzt schon seit Wochen. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich WILL mein Versprechen halten, ich WILL dieses Buch schreiben, aber gleichzeitig sträubt sich alles dagegen. Zwar versuche ich immer wieder, mich in die Stimmung von damals zu versetzen, am Ende des ersten Teils, als ich von der Idee der Fortsetzung so überzeugt und begeistert war: Ich staple Reiseführer auf dem Schreibtisch, krame das arabische Dishdasha-HtmA heraus und setze den Tropenhelm auf... nicht nur vergebens, sondern auch lächerlich. So läuft das ja auch bei vorausgeplanten Sexorgien: Man stellt sich das in der Fantasie ganz riesig vor, schraubt rote Glühbirnen ein und legt Handtücher bereit, und wenn dann alle da sind, diskutiert man über Tolstoi.
Ich habe mir daher einen Trick ausgedacht, um diesen Teufelskreis zu verlassen, eine Art Selbstbetrug, zugegeben, aber vielleicht geeignet, um doch noch den Einstieg in die Arbeit zu finden: Ich verzichte ganz einfach auf den zweiten Teil und mache statt dessen was völlig anderes. Nämlich ein
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