Feuersturm: Roman (German Edition)
den Innereien des Hauptquartiers des Detroit Fire Departments geriet es häufig schlicht in Vergessenheit. Das Kellerbüro mit dem alten schwarz-weiß gefliesten Boden, der gesprungenen Scheibe im oberen Teil ihrer Tür und den abgenutzten Büromöbeln aus den Sechzigern roch nach Moder und abgestandenem Kaffee. Die Leuchtstoffröhren an der Decke summten und flackerten. Es war kein Palast, aber es war ein Zuhause abseits ihres Zuhauses. Und sie wurde hier nur selten von irgendjemandem belästigt. Sie wusste es zu schätzen, nicht oben in dem vollgestopften Großraumbüro mit seinen mit Raumteilern abgetrennten Arbeitsnischen untergebracht zu sein; Anya war nicht daran interessiert, zu sehen oder gesehen zu werden. Sie wollte Raum zum Denken. Auch wenn dieser Raum keinen Wohlgeruch verströmte.
Anya saß im Schneidersitz auf dem Boden, umgeben von Stapeln von 20 × 30-Abzügen. Sie hatte die ganze Nacht damit zugebracht, die neuerlich veränderte Brandstelle mit ihrer Kamera zu protokollieren, und war nun dabei, diese Fotos mit denen vom Vortag zu vergleichen. Der quietschende Tintenstrahldrucker auf ihrem Schreibtisch spuckte widerwillig eines nach dem anderen aus, sofern er nicht gerade wieder einen Papierstau fabrizierte. Anya thronte mit einem roten Textmarker über den Fotos und kreiste Dinge ein, die da sein sollten, aber nicht da waren. Es war wie ein riesiges »Wo – verdammt noch mal – ist Walter?«-Suchbild, und es bereitete ihr Kopfschmerzen.
Bislang fehlten aus Bernies Haus sechs Schwerter, sechsundzwanzig Flaschen diverser Art, Kristalle und Steine, ein paar Statuen, ein geschnitzter Holzschädel und ein Beutel mit Murmeln. Und das war nur das, was sie bei der ersten Bestandsaufnahme und der Sichtung der Fotos hatte entdecken können. Vermutlich fehlte noch viel, viel mehr, von dem sie nie erfahren würde. Sie hatte versucht, Bernies Angehörige zu finden, um herauszufinden, ob die ein wenig Licht auf seinen Tod oder die verschwundenen Gegenstände werfen konnten, aber sein einziger lebender Verwandter, ein Neffe, hatte ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesprochen. Der Neffe hatte Verstand genug bewiesen, um aus Detroit fortzuziehen. Als Anya ihn fragte, was mit der verbliebenen Habe seines Onkels geschehen sollte, hatte der Neffe erklärt: »Fackeln Sie es ab. Können Sie es nicht für Feuerwehrübungen benutzen oder so was in der Art?«
Anya nagte an der Kappe ihres Stifts und starrte die Bilder an. Dieses Durcheinander zu enträtseln würde Monate dauern. Jahre.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, rüttelte sie aus ihren Gedanken. Sie streckte die Hand aus und schnappte sich den Hörer. »Kalinczyk.«
»Was zum Teufel haben Sie mir da eigentlich geschickt? Einen gottverdammten Fuß?« Die Bezirksgerichtsmedizinerin am anderen Ende kreischte förmlich, und das Rascheln einer Plastiktüte war zu hören. »Was zum … zwei Füße?«
»Das ist eine Leiche, Gina.«
»Wo ist der Rest davon?«
»Das ist der Rest.«
»Erklären Sie mir das bitte.«
»Sie stammen von einem Brandort. Brandspuren auf der Couch und dem Boden, und die Füße wurden am Rand der Brandspuren gefunden.«
»Haben Sie Fotos?«
»Ja. Ich schicke Sie über die Hauspost …«
»Bringen Sie sie lieber her, wenn Sie einen Bericht von mir erwarten. Anderenfalls bleiben diese Füße bis Weihnachten in der Kühlung.« Gina legte auf.
Seufzend pflückte Anya die Fotos vom Boden, die Bernies Überreste zeigten, und schob sie in einen braunen Umschlag.
Sie hasste es, die Gerichtsmedizin aufzusuchen, aber niemand widersetzte sich Gina, dem Ghul.
Mit dem Umschlag unter ihrem Arm schaltete Anya, leise vor sich hin schimpfend, die Bürolampen aus und ging die Treppe hinauf. Die Hauptwache des Detroit Fire Departments war bereits 1929 in einem Gebiet erbaut worden, das heute als Washington Boulevard History District bekannt war. Die Eingangshalle und die oberen Stockwerke waren offen für den Publikumsverkehr und mehrfach umgestaltet und neu möbliert worden, aber von außen schmückte sich das Gebäude immer noch mit der Originalfassade mit ihren hohen Mauerbögen über den Türen.
Der Zauber der 1920er endete, sobald sie auf der Straße angelangt war. Gleich gegenüber dem DFD stand das Cobo Center. Das in den Sechzigern erbaute, modernistisch-kubische Bauwerk erstreckte sich über mehrere Häuserblocks und ragte im Süden sogar noch über den Lodge Freeway hinweg. Den Kontrast zwischen neu und alt fand sie nach wie vor
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