Feuersturm: Roman (German Edition)
wurde.«
Anya zog ein Bündel Fotos aus dem Ordner. Das erste Bild, aufgenommen in einem kalten, klaren, fluoreszierenden Licht, zeigte einen grauhaarigen alten Mann in einem schmutzigen Mantel auf einem Untersuchungstisch des rechtsmedizinischen Instituts. Er sah aus wie ein schlafender Penner, nur dass der untere Rand seines grauen Barts und die Vorderseite seines Mantels verkohlt waren. Auf dem nächsten Foto war der Mantel offen, und es war unverkennbar, dass beinahe sein ganzer Torso eingesunken und verbrannt war. Teile der Rippen hakten sich um die Überreste seines Flanellhemds wie knochige Finger mit geschwärzten Spitzen.
»Was zum Teufel …?«, murmelte Anya und ging die übrigen Bilder durch, die einen gewaschenen Leichnam zeigten – mit einem klaffenden Loch an der Stelle, an der das Abdomen hätte sein sollen. Es sah aus, wie sich das Geister verzehrende schwarze Loch in Anyas Brust anfühlte, aber dieses Loch war weit offen und aller Augen zugänglich.
»Der Polizeibericht ist auch in dem Ordner. Streifenpolizisten haben den Burschen zusammengerollt unter dem Schalterfenster gefunden. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Sie haben ihn rausgeholt und hergeschickt. Er konnte nicht identifiziert werden, aber die anderen Obdachlosen haben ihn George genannt.«
»Wo ist die Leiche?«
»Niemand hat Anspruch auf sie erhoben, also wurde er von Amts wegen kremiert.« Gina zuckte mit den Schultern. »Nicht ohne Ironie, das Ganze, ich weiß. Aber dieser Fall war seltsam genug, um ihn in meine Sammlung bizarrer Fälle aufzunehmen.«
Anya sah sie stirnrunzelnd an. »Sie sammeln so etwas?«
»Teufel, ja.« Gina pflanzte die Fäuste auf die Hüften. »Ich werde ein Buch schreiben, wenn ich in den Ruhestand gehe.«
Anya prustete. Gina, der Ghul, würde niemals in den Ruhestand gehen. »Darf ich mir die Akte ausleihen?«
»Klar. Ginas Sammlung forensischer Mysterien ist eine Leihbücherei.« Gina deutete über ihre Schulter mit dem Daumen auf Bernies Überreste. »Ich gehe davon aus, dass sich das Labor mit den Testergebnissen zu dem Burschen bei Ihnen meldet. Aber wir können nur vermuten, was Sie aus diesem Chaos herauslesen können.«
Anyas Blick huschte zwischen dem Foto des toten Penners und Bernie hin und her. War das nur ein Zufall, oder gab es womöglich einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen? Nachdenklich musterte sie die Ascheklumpen auf dem Tisch.
Beide Fälle waren einfach unmöglich. Wie also sollte es da keinen Zusammenhang geben?
Kaum jemand kümmerte sich um die Obdachlosen. In Detroit lebten sie größtenteils unter dem Radar der Öffentlichkeit. In den Sommermonaten waren sie etwas häufiger zu sehen, im Winter versteckten sie sich in Schuppen, verlassenen Gebäuden und windgeschützten Gassen vor der Kälte. Fast immer jedoch gehörten sie so sehr zum Stadtbild wie all die anderen Schandflecke auch. Da sich niemand für diese Menschen interessierte, gab sich auch niemand große Mühe, den Tod eines Penners zu untersuchen, der vermutlich ganz einfach mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen war. Routinemäßig wurden ein paar Formulare ausgefüllt, abgelegt und umgehend wieder vergessen.
Noch immer ein reizvolles Gerippe der schöne Künste, überragte die Michigan Central Station ein Dutzend verbogener, verdrehter Schienenstränge wie eine zerschlagene Riesenspinne. Der 1913 erbaute Bahnhof mit seinen weiten Mauerbögen und den eleganten Säulen, durch den früher einmal Passagiere zu ihren jeweiligen Zielen geschleust worden waren, schmückte sich mit einem achtzehngeschossigen, turmartigen Aufbau. Der mächtige, alte Bau war nun von einem hohen Zaun mit einer Krone aus Stacheldrahtrollen umgeben. Das Glas der meisten Fenster war längst zerstört, und die Fassade, nachdem sie jahrelang nicht instand gehalten worden war, schwarz verfärbt.
Anya starrte zu dem hoch aufragenden Bahnhofsgebäude empor. Sparky thronte auf ihren Schultern. Der Dart stand hinter ihr auf dem Parkplatz, dessen Asphalt aufgesprungen und mit Gras durchsetzt war. Sie konnte sich gut vorstellen, dass man an diesem Ort leicht verloren gehen, verbrennen und nicht gefunden werden mochte. Das Gebäude war, solange Anya sich erinnern konnte, abwechselnd zur Wiederbelebung und zum Abriss vorgeschlagen worden. Sie wusste nicht mehr, ob sein jüngst propagiertes Schicksal im Umbau zu einem Kasino oder im Abriss zugunsten eines Parkplatzes bestand.
Sie schritt an dem Maschendrahtzaun entlang und suchte
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