Feuersturm: Roman (German Edition)
nach einem Durchgang. Wenn die Obdachlosen problemlos auf das Gelände gelangten, dann dürfte sie das auch können. Bald entdeckte sie zwei Zaunpfosten, zwischen denen eine Lücke klaffte. Als sie sich durch den Spalt quetschte, kratzte sie sich die Arme an den ungeschützten Enden des Drahtzauns auf. Einmal auf der anderen Seite bahnte sie sich einen Weg durch Unkraut und Müll und kletterte die wenigen Stufen zu dem bogenförmigen Eingang hinauf. Ein Stück Sperrholz lehnte an der gesplitterten Tür. Anya schob es zur Seite und ging hinein.
Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatten. Dann stellte sie fest, dass sie sich im Wartesaal des Erdgeschosses befand. Eine hohe, gewölbte Decke strebte gen Himmel, verschwand in über fünfzehn Metern Höhe beinahe in der Schwärze. Flankiert wurde die ausgedehnte Halle von einer Arkade mit dorischen Säulen und schadhaften, marmorverkleideten Wänden. Sonnenlicht strömte durch zerbrochene Fenster herein. Irgendwo weit oben konnte sie Tauben in ihren Nestern gurren hören. Graffiti überzogen die Wände so hoch, wie ein Mensch nach oben greifen konnte und noch etwas darüber hinaus. Bewehrungsstahl ragte aus den Wänden, denen die Verkabelungen und Kupferrohre schon vor langer Zeit entrissen worden waren. Verrostete Fässer verteilten sich über den Boden. Zeitungen und Lumpen bedeckten die Zwischenräume. Umgekippte Einkaufswagen standen über verbrannten Abfällen, wo sie als provisorische Grillroste gedient hatten. Im ganzen Saal stank es überwältigend nach abgestandener Pisse. Dieser Ort war definitiv bewohnt.
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie sich an die Lichtverhältnisse angepasst hatte, erkannte sie Schatten, die sich im Dunkeln regten, schwarze Silhouetten, die dutzendweise durch den Wartesaal zu der gemauerten Bahnhofshalle strebten.
Sie spürte ein Prickeln am Hals und hörte Sparky knurren. Seine Kiemenwedel zuckten und ruckten nach vorn.
Anya schaltete ihre Taschenlampe ein und richtete den Lichtkegel auf die gärende Finsternis. Die Schatten huschten davon, als wäre der Lichtschein ein bissiges Biest.
»Hallo?«, rief sie, während ihr das Herz in der Brust zu zerspringen drohte.
Die Schatten flitzten von dannen. Anyas Finger an der Taschenlampe waren schlüpfrig vor Schweiß. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, allein herzukommen.
Der Polizeibericht besagte, dass die Leiche des Penners in einem der alten Fahrkartenschalter gefunden worden war. Entschlossen setzte Anya einen Fuß vor den anderen, um in die Überreste des Schalterraums zu schauen. Ihr Licht schweifte über den verbeulten Tresen und die schadhafte Öffnung des Schalterfensters. Glas gab es hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Sparky hüpfte durch die Fensteröffnung auf den Tresen. Anya folgte ihm unbeholfen, steckte erst ein Bein durch den Rahmen, dann das andere. Anschließend schob sie sich über den Tresen, bis sie ihre Füße auf den Boden setzen konnte … und in etwas, das nach menschlichen Exkrementen roch.
»Iiih«, ächzte sie und wischte den Schuh an der Wand ab.
Sie ließ den Lichtstrahl durch das vermüllte Büro gleiten, in dem es stank wie in einer Kloake. Eine Ratte erschreckte sie, als sie über den rissigen Boden in ein Nest aus Zeitungen huschte. Der Lichtkegel fiel auf einen Brandfleck auf dem Boden gleich unter dem Tresen. Anya bückte sich, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
Dies musste die Stelle sein, an der der Obdachlose gefunden worden war. Zwar waren heute, Wochen später, keine verwertbaren Beweise mehr hier, dennoch hatte Anya sich den Brandort persönlich ansehen wollen. Die Fotos, die die Polizei routinemäßig angefertigt hatte, zeigten im Großen und Ganzen dieselbe Müllhalde, allerdings mit einem Paar Füße, das unter dem Tresen hervorragte. Anyas Lichtkegel offenbarte nicht nur die Brandspur auf dem Boden, sondern auch noch eine weitere auf dem Schmutz unterhalb des Tresens und eine vorbeihuschende Küchenschabe. Sollte der Brand eingesetzt haben, als der Mann am Boden gelegen hatte, hätte der Rauch den ganzen Tresen hinaufziehen müssen … und die enorme Hitze, die für die angerichteten Schäden notwendig gewesen wäre, hätte auch den Müll in der näheren Umgebung in Mitleidenschaft gezogen. Doch genau wie in Bernies Haus gab es auch hier nur einen schwarzen Fleck, eine ausgesprochen unbedeutende Spur, die kaum auf solch ein dramatisches Geschehen
Weitere Kostenlose Bücher