Fever Pitch
verteidigte, war Fernsehen noch immer eher ein Luxus als eine Notwendigkeit (und in jedem Falle existierte nicht die nötige Technologie, um die Spiele live aus Chile zu übertragen), und 66 hatten die Südamerikaner schlechte Leistungen gezeigt. Brasilien war bereits in der Vorrunde ausgeschieden, und Argentinien fiel bis zu seinem Ausscheiden gegen England im Viertelfinale – als Kapitän Rattin vom Platz gestellt wurde, sich aber weigerte zu gehen, und Sir Alf die Argentinier als Tiere bezeichnete – nicht weiter auf. Das einzige andere südamerikanische Team unter den letzten Acht, Uruguay, wurde von Deutschland mit 4:0 abgefertigt. 1970 war praktisch die erste bedeutende Konfrontation zwischen Europa und Südamerika, bei der sich der Welt die Gelegenheit bot, Zeuge zu sein. Als die Tschechoslowakei gegen Brasilien in Führung ging, bemerkte David Coleman, daß sich alles, was wir über sie wissen, bewahrheitet. Er meinte damit Brasiliens nachlässige Abwehr, doch seine Worte waren die eines Mannes, dessen Job es war, eine Kultur einer anderen vorzustellen.
In den folgenden achtzig Minuten bewahrheitete sich aber auch alles andere, was wir von ihnen wußten. Sie glichen durch einen direkt verwandelten Freistoß von Rivelino aus: der Ball tauchte in der dünnen Luft von Mexiko ab, drehte sich und flatterte ins Tor. (Hatte ich je zuvor einen direkt verwandelten Freistoß gesehen? Ich erinnere mich an keinen.) Als Pelé einen langen Paß mit der Brust annahm und volley im Eck versenkte, gingen die Brasilianer 2:1 in Führung. Am Ende stand es 4:1, und wir im Postbezirk 2W, dem kleinen, aber bedeutsamen Zentrum des weltumspannenden Dorfes, waren gehörig eingeschüchtert.
Es war jedoch nicht nur die Qualität ihres Fußballs, es war die Art, wie sie die unerhört raffinierte Verschönerung des Spiels so betrachteten, als sei sie ebenso funktional und notwendig wie ein Eckball oder ein Einwurf. Der einzige Vergleich, der mir damals zur Verfügung stand, war der mit Spielzeugautos: Obwohl ich kein Interesse an Dinky, Corgi oder Matchbox hatte, liebte ich Lady Penelopes rosa Rolls-Royce und James Bonds Aston Martin, die beide mit ausgeklügelten Vorrichtungen wie Schleudersitzen oder verborgenen Geschützen ausgestattet waren und sich damit vom langweilig Normalen abhoben. Pelés Versuch, aus der eigenen Hälfte ein Tor mit einer Bogenlampe zu erzielen, und der Trick, mit dem er den peruanischen Torwart verlud, als er ihn auf der einen Seite umkurvte und den Ball auf der anderen vorbeispielte … das waren fußballerische Gegenstücke zum Schleudersitz und ließen alles andere wie einen Haufen Opel Kadetts aussehen. Selbst die brasilianische Art, Tore zu feiern – vier Schritte rennen, hochspringen, Faustschlag, vier Schritte rennen, hochspringen, Faustschlag –, war fremdartig, lustig und beneidenswert, alles zur gleichen Zeit.
Das Eigenartige daran war, daß all das keine Bedeutung hatte, weil England damit leben konnte. Als wir im zweiten Spiel gegen Brasilien spielten, verloren wir unglücklich 0:1, und in einem Turnier, das für Dutzende von Superlativen sorgte – die beste Mannschaft aller Zeiten, der beste Spieler aller Zeiten, sogar die zwei besten Fehlschüsse aller Zeiten (beide von Pelé) –, steuerten wir unser Schärflein bei: die beste Parade aller Zeiten (Banks gegen Pelé, selbstverständlich) und das perfektest ausgeführte Tackling aller Zeiten (Moore gegen Jairzinho). Es ist einerseits bezeichnend, daß unser Beitrag zu diesem Ringelreihen der Superlative auf unserer exzellenten Verteidigung beruhte, aber andererseits völlig egal – neunzig Minuten lang war England ganz genauso gut wie das beste Team der Welt. Trotzdem heulte ich nach dem Spiel (hauptsächlich, weil ich die Art, wie das Turnier funktionierte, mißverstanden hatte – ich dachte, wir wären draußen, und Mum mußte mir die Wunderlichkeiten des Gruppensystems erklären).
In gewisser Weise haben die Brasilianer es für uns alle verdor
ben. Sie hatten eine Art von platonischem Ideal enthüllt, das für immer unerreicht bleiben sollte, sogar für sie selbst. Pelé hörte auf, und in den folgenden Turnieren zeigten sie nur gelegentlich ein Aufblitzen ihres Schleudersitzfußballs, so als sei 1970 ein schemenhaft erinnerter Traum, den sie von sich selbst hatten. In der Schule blieben wir mit unserer Sammlung von EssoWeltmeisterschaftsmünzen und ein paar hübschen Tricks zum Ausprobieren zurück. (Da wir die nicht mal
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