Fey 01: Die Felsenwächter
deutlich anzuhören.
Immer noch flackerten die Lichter, es waren sicher ein Dutzend. »Ja. Wir studieren den Roca. Wir glauben, daß er ein Mensch war. Wir benutzen die Worte zur geistigen Führung, aber wir wissen nichts über die Wahrhaftigkeit dieses Menschen.« Der Rocaan umfaßte das nasse Holz. »Bis jetzt war das bedeutungslos. Bis zu diesem Augenblick habe ich noch nicht einmal daran gedacht.«
»Es gibt historische Präzedenzfälle für das, was wir heute getan haben«, sagte Matthias. »Den Fünfundvierzigsten Rocaan, den Dreiundzwanzigsten …«
»Vielleicht haben sie alle nicht verstanden, was der Heiligste ihnen sagen wollte. Vielleicht ist es die Pflicht der Rocaan, sich alle paar Generationen für ihr Volk zu opfern. Vielleicht ist es eine Art Glaubensprüfung. Vielleicht haben wir das Fundament unseres Glaubens erschüttert, weil wir dieser Pflicht nicht nachgekommen sind.«
Der Stuhl hinter ihm ächzte, als Matthias sich erhob. Er trat an die Brüstung und stellte sich neben den Rocaan. Seine Körpergröße machte es ihm unmöglich, die Arme aufzustützen. Er legte die Hände hinter dem Rücken übereinander und starrte über das Gemetzel hinweg zum Fluß. »Ihr sprecht über Dinge, von denen wir nichts wissen können«, erwiderte er leise. »Die Fey hätten Euch getötet. Soviel ist sicher.«
»Und vielleicht wäre ich in Gottes Hand aufgenommen worden. Vielleicht ist das die Pflicht eines Rocaan. Nicht die Führerschaft in dieser Welt, sondern in der nächsten.«
»Davon steht nichts in den Geschriebenen und Ungeschriebenen Worten.«
»Die Worte sind voll solcher Ermahnungen, die sich an den Roca richten. Sagt mir eines, Matthias: Wer sind die Soldaten des Feindes? Wir wissen es nicht. Es ist nur eine allgemeine Bezeichnung. Vielleicht waren es Cemeni und die anderen Anführer des Bauernaufstandes. Vielleicht hatte der Fünfundvierzigste Rocaan es versäumt, dem Vorbild des Roca zu folgen. Vielleicht sind das hier nur andere Soldaten des Feindes, und ich habe ebenfalls versagt.«
»Ich glaube, Gott macht es niemandem leicht, die richtige Wahl zu treffen«, entgegnete Matthias.
»Und ich glaube, diese Antwort ist zu einfach für ein so kompliziertes Problem.« Der Rocaan ließ zu, daß seine körperliche Erschöpfung die Oberhand gewann. »Ich habe für heute genug. Ich möchte mich in meine Gemächer zurückziehen.«
»Wartet.« Matthias legte eine Hand auf die Schulter des Rocaan. »Was sind das für Lichter?«
»Sie flackern schon den ganzen Abend.«
»Ich hatte gerade den Eindruck, als wäre jemand in ihrem Schein verschwunden.«
Beruhigend klopfte der Rocaan auf Matthias’ Schulter. »Ich glaube, es sind Fey-Seelen, die ihrem eigenen Schöpfer begegnen.«
»Oder ein neuer Zaubertrick der Fey, den wir noch nicht kennen. Was ist aus ihren Schiffen geworden, Heiliger Herr? Schiffe von dieser Größe verschwinden nicht einfach aus unserem Hafen, aber trotzdem haben unsere Leute keine Spur von ihnen finden können.«
Der Rocaan spürte ein unerklärliches Frösteln und eine noch merkwürdigere Hoffnung. Wenn die Fey noch nicht vernichtet waren, ergab sich vielleicht doch noch eine Gelegenheit für ihn, seinem Gott zu dienen. Er blickte in den dunklen Hof hinunter, als könnte er sehen, wie sich die Toten unverletzt und erstarkt wieder erhoben.
»Wofür haltet Ihr es?« flüsterte er.
Matthias schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Aber ich verspreche Euch bis morgen früh eine Antwort.«
31
Das Schattenland saugte alle Farbe aus den Schiffen. Rugar stand an Deck der Feire und beobachtete, wie sich seine Leute nach und nach an Bord schleppten, blutig, geschlagen und entsetzt. In ihrer gesamten Geschichte waren die Fey noch niemals auf einen solch überlegenen Gegner getroffen.
Rugars Kleidung roch nach Schmutz und jenem sonderbaren Verwesungsgeruch, den die Leichen in der Nähe des Hafens ausströmten. Seit seinem Rückzug in die Schattenlande hatte er den Eingangskreis am Pier etwas erweitert und mit noch mehr Fey-Lampen gekennzeichnet. Ein Fußsoldat stand draußen und tauschte die schwächer werdenden Lampen gegen neue aus. Bis jetzt waren schon hundert Fey ins Schattenland zurückgekehrt. Er wollte sichergehen, daß alle Überlebenden den Weg hierher fanden.
Seine Suche nach Jewel war bisher erfolglos geblieben. Er hoffte, daß es ihr gelungen war, die Eccrasia zu erreichen, aber er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, dort nach ihr zu
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