Fey 01: Die Felsenwächter
neugierig herein. Der Schwarzkittel schob sich unwirsch an ihnen vorbei. Dann wurde die Tür zugeschlagen.
»Ihr habt merkwürdige Sitten«, sagte Jewel auf Nye. »Ist Ungehorsam bei euch üblich?«
»Heute ist ein besonderer Tag«, erwiderte der König. »Ich würde jetzt nicht mit dir sprechen, wenn der Danite mir nicht gesagt hätte, daß eure Leute in den meisten Teilen unserer Stadt im Sterben liegen. Eure Invasion ist gescheitert.«
Die Finger des Doppelgängers gruben sich in ihre Schultern. Es war schmerzhaft, aber sie konnte nicht ausweichen. Sie glaubte es noch nicht recht, aber seit der Ankunft auf der Insel war nichts mehr nach Plan verlaufen. Trotzdem, über das Doppelleben von Schattengänger wußten sie nichts.
»Wenn wir sowieso scheitern, wozu braucht ihr mich noch?« fragte sie.
»Weil ich nicht glauben kann, daß es so leicht ist, die Fey zu besiegen«, antwortete der König. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar. »Mylord, bringt sie ins Verlies und laßt sie dort von einem Posten Eures Vertrauens bewachen. Ich möchte nicht nach unten gehen und dort erfahren, daß irgendein Übereifriger schon vor mir dort war.«
»Ich werde mit ihr gehen«, sagte der Prinz.
»Nein«, sagte der König. »Du bleibst bei mir.«
Jewel schluckte krampfhaft. Sie konnte ihr Glück noch nicht fassen. Würde man sie wirklich mit Schattengänger allein lassen? Das wäre fast zu einfach.
»Lord Powell kennt die Wachen nicht«, warf Stephan jetzt ein. »Ich begleite die beiden und komme sofort wieder zurück. Außerdem möchte ich die Niederlage mit eigenen Augen sehen.«
»Ich werde schon mit ihr fertig«, sagte Schattengänger.
Stephan lächelte nachsichtig. »Wahrscheinlich würdet Ihr schon bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten die Beine in die Hand nehmen. Habe ich Eure Erlaubnis, Sire?«
Der König nickte. Er wechselte einige Worte in der Landessprache mit den beiden Männern. Jewel wünschte, ihre Arme wären nicht taub. Schattengänger konnte den alten Mann niederschlagen und sie dann befreien. Anschließend könnten sie zu ihren Leuten stoßen. Es würde ganz einfach sein.
Das hoffte sie jedenfalls.
30
Die Sonne ging langsam unter. Der Himmel über dem Cardidas färbte sich blutrot. Lange Schatten verbargen den Rocaan auf seinem Balkon. Er fühlte sich leer, ausgehöhlt. Unten im Hof lagen die Leichen wie Abfall herum. Der Gestank war so durchdringend, daß man ihn fast mit Händen greifen konnte. Von jetzt an würde er immer der Geruch der Angst bleiben.
Matthias hielt sich in seinem Gemach auf und überwachte die Herstellung des letzten Weihwassers für den heutigen Tag. Eine Flasche nach der anderen wurde auf Tabletts weggetragen, als seien alle Bewohner der Blauen Insel auf einmal zum Mitternachtssakrament erschienen und bedürften der Segnung.
Soweit der Rocaan sehen konnte, wurde nicht mehr gekämpft. Im Hafen flackerten Lichter, aber die Schiffe waren weg. Er hatte so lange in die Dämmerung gestarrt, daß ihm schien, als sähe er gelegentlich einen Fey über das Wasser des Cardidas verschwinden. Vielleicht handelte es sich um verlorene Seelen auf ihrem letzten Weg.
O Heiligster! Der Rocaan legte den Kopf in den Nacken. Er konnte nicht glauben, daß Gott dieses Werk der Vernichtung guthieß.
Der Gestank berührte ihn, drang tief in seinen Körper ein. Er würde ihn niemals mehr abwaschen können. Wenn nur das Durcheinander nicht so groß gewesen wäre, wenn er sich doch mit einigen der anderen Ältesten beraten hätte, statt nur auf Matthias zu hören. Matthias war noch niemals gläubig gewesen. Matthias hatte stets seinen Verstand benutzt, um alles zu rechtfertigen.
Er hatte panische Angst vor den Fey.
Der ganze Körper des Rocaan schmerzte, jedes Gelenk in den Händen, Ellbogen und Schultern, außerdem sein Rücken … Das alles rührte von der Arbeit her, der er sich am Nachmittag gewidmet hatte.
Er konnte Matthias nicht für die Zerstörung verantwortlich machen. Nicht Matthias hatte die Entscheidung getroffen – obwohl er dabei geholfen hatte, das Weihwasser herzustellen –, sondern der Rocaan selbst.
Er wußte nicht, wie viele Menschen gestorben waren. Dort unten hatte er fast hundert Leichen gezählt.
Wieder flackerten Lichter am Hafen. Fünf Fey standen am Pier und waren plötzlich verschwunden. Die Kampfgeräusche waren verstummt. Nur das Stöhnen der Überlebenden erfüllte jetzt die Stadt. Ach, könnte er doch nur zum gestrigen Tag
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