Fey 01: Die Felsenwächter
suchen.
»Herr, noch einer von unseren Leuten!« rief ihm jetzt ein weiblicher Wetterkobold von ihrem Ausguck am Bug zu. Er erstarrte. Dieses Schattenland war in Eile und dem Vertrauen darauf entstanden, daß darin nur die Schiffe und höchstens fünfzig Armeeangehörige untergebracht werden mußten. Schon jetzt zeigten sich die Folgen der unerwartet hohen Belastung, die sein Werk zu tragen hatte. Einige Ränder waren bereits aufgerissen, und ein aufmerksamer Beobachter konnte immer wieder Lichter und Teile des Schiffes sehen. Er war dankbar für die Dunkelheit, ohne die die Inselbewohner sie schon längst aufgespürt hätten.
Er fühlte sich unbehaglich in seiner schlammverkrusteten Kleidung und wünschte sich einen Augenblick, nur einen einzigen Augenblick, um nach seiner vermißten Tochter suchen zu können – und um ein Bad zu nehmen. Aber er war der einzige, der das Schattenland reparieren konnte. Während er das Deck überquerte, hallten seine Fußtritte in dem hohlen Nichts, aus dem das Schattenland bestand. Soldaten, die sich nicht in die Finsternis unter Deck zurückziehen wollten, saßen zusammengekauert an der Reling und lehnten sich aneinander, um es etwas bequemer zu haben. Er nickte ihnen zu und versuchte, sie mit einem Vertrauen, das er selbst nicht mehr hatte, zu beruhigen.
Diese Niederlage war unerwartet über sie hereingebrochen. Er hatte sich auf einen kurzen Kampf und einen schnellen Sieg eingestellt. Ein weiterer Fehler. Hätte er gewußt, daß sich diese Invasion in eine lange, kräftezehrende Reihe von Angriffen verwandeln würde, hätte er mehr geschlafen und sich selbst besser auf die Anstrengungen vorbereitet, denen seine Kräfte jetzt ausgesetzt waren.
So wie die Dinge lagen, würde er gemeinsam mit den Hütern an einem Gift arbeiten müssen, das den Zauber der Inselbewohner wirkungslos machte. Er mußte die Schattenlande instand halten, während seine Kundschafter einen neuen Standort suchten. Dort würde er ein neues Schattenland errichten, eines, das stabiler war und seine gesamte Armee aufnehmen konnte. Ein solcher Versuch war nicht mehr unternommen worden, seit die Königin vor zweihundert Jahren ein ebenso großes Schattenland bei der Schlacht von Ycyno aufgebaut hatte. Er hoffte, daß seine Kräfte dazu ausreichten.
Der Wetterkobold stand am Bug, nahe der Reling. Er wies auf ein Loch im Schattenland, aber das war überflüssig. Das Geräusch des Wassers, das gegen die Hafenmauer schwappte, war deutlich zu hören, und die kühle Brise, die den Geruch des Todes vor sich hertrieb, wehte bis ins Schattenland herein. Er betrachtete den Riß und sah, daß er an jener Seite des Ufers lag, wo das schreckliche, palastähnliche Gebäude stand, in dem die Vernichtung der Fey ihren Anfang genommen hatte.
»Danke«, sagte er. »Ich kümmere mich sofort darum.«
Trotzdem blieb er einen Augenblick stehen und blickte durch das Loch auf die deutlichen Umrisse und klaren Linien der wirklichen Welt. Er lebte nicht gern im Schattenland, auch wenn es immer nur ein paar Tage waren. Das Grau war deprimierend. Es drückte die Stimmung, statt sie zu heben.
Dann streckte er sich und ergriff die weichen Ränder der Schatten. Er schloß die Augen, dichtete den Riß mit Hilfe seiner Vision und ließ den Saum, der dabei entstand, durch bloße Willenskraft sich im Schatten auflösen. Als er die Augen öffnete, war der Riß nicht mehr zu sehen. Um ihn herum herrschte nichts als Grau. Ein Grau, das nicht enden wollte.
Und Stille. Die Stille irritierte ihn besonders. Keiner der zurückkehrenden Soldaten sagte etwas. Sie suchten sich einen Platz, ließen sich dort fallen und blieben fast reglos liegen.
Das war nicht die erste Schlacht, die die Fey verloren, aber sie waren noch nie zuvor auf diese Weise geschlagen worden. Zwar waren ihnen auch in der Vergangenheit verschiedene Feinde so deutlich an Anzahl überlegen gewesen wie jetzt die Inselbewohner, aber es hatte sich dabei stets um gut ausgebildete Kampfeinheiten gehandelt, die mit hochentwickelten Spezialwaffen gekämpft hatten. Noch nie zuvor waren die Fey einem Gegner begegnet, dessen Zauber mächtiger als der ihre war. So waren die Fey nach und nach zu der Überzeugung gelangt, daß sie die einzigen waren, die über solche Kräfte verfügten. Für Rugar war es ein Schock, daß sich diese Überzeugung jetzt als falsch erwies, und der entsetzliche Tod, den seine Leute sterben mußten, verstörte ihn ebenfalls zutiefst. Trotzdem lag es jetzt nur an ihm,
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