Fey 01: Die Felsenwächter
zu verwandeln, mußten das Volk der Fey und seine Kinder, abgesehen von Jewel, ja nichts davon erfahren.
Er nahm ihr Nachthemd in die Hand und drückte es an sich. Das Baumwollgewebe stammte vom Fuß der Eccrasischen Berge. Der Zauber, der darin verwoben worden war, hielt den Träger besonders warm und machte es dadurch zu einem sehr kostbaren Stück. Jewel liebte das Nachthemd und trug es seit über einem Jahr. Sie hatte es anfertigen lassen, weil sie selbst über keine besonderen Zauberkräfte verfügte.
»Rugar?« Eine leise männliche Stimme ertönte.
Rugar blickte unwirsch auf. Daß er gerade in diesem Moment der Verletzbarkeit überrascht werden mußte! Ein junger Fey stand vor ihm. Er war schlank, hochgewachsen und trug das Wams der Infanterie. Sein linker Ärmel war zerrissen, der Arm hing kraftlos herab. Direkt über dem Ellbogen war ein fleckiger Verband angelegt worden.
Er trat in den Lichtkegel. Sein Gesicht war blutverschmiert, nicht wie das einer Rotkappe, sondern wie das eines Mannes, der gekämpft hatte.
»Tut mir leid«, sagte Rugar. »Ich kann dich im Moment nirgends einordnen.«
»Burden.« Sogar der Name des Jungen strahlte Traurigkeit aus.
Ein Freund von Jewel. Einer, der mit ihr gemeinsam diente und ein Auge auf sie geworfen hatte. Rugar hatte gehofft, daß Jewel die Zuneigung des jungen Mannes ein wenig erwidern würde, bevor sie sich endgültig band. Seiner Meinung nach war ein Techtelmechtel mit einem Mann der Infanterie eine gute Vorbereitung auf das Leben, das Jewel später erwartete. Jetzt lief es Rugar jedoch eiskalt den Rücken hinunter. Er wickelte das Nachthemd um seine Finger.
»Bist du auf der Suche nach Jewel?«
Burden schüttelte den Kopf. »Ich habe dich gesucht.«
Rugar hatte das Nachthemd so straff um seine Hand gebunden, daß er Daumen und Zeigefinger nicht mehr bewegen konnte. Er preßte die Faust um das Material und hielt sie wie einen Schild vor die Brust, als wollte er sich damit vor allem, was Burden sagen konnte, abschirmen.
»Du kämpfst mit Jewel in einer Truppe.« Es war keine Frage. Soviel wußte er von der Einheit, in der Jewel diente.
»Unter Shima.« Der Junge stützte seinen verletzten Arm mit dem gesunden. »Shima ist tot.«
»Ich hoffe, sie starb als aufrechte Kriegerin.«
»Das Gift traf sie, während sie uns zum Rückzug rief.«
Burden stieß die Worte mit kaum verhohlener Wut hervor. »Sie hat lange gebraucht, bis sie gestorben ist.«
Rugar löste seine Finger von dem Nachthemd. Es wäre jetzt an ihm gewesen, aufzustehen und die Unterhaltung mit diesem unbedeutenden Jungen, der keinerlei Macht hatte, in die üblichen Bahnen zu lenken. Aber er brachte es nicht fertig. Er hörte die verhaltene Anklage hinter den Worten und fühlte ihre Berechtigung. Shima hatte ihn davor gewarnt, daß sie auf diesem Feldzug sterben würde und daß er einen Fehler beging.
»Was ist mit Jewel?«
»Jewel hat die Truppe in den Palast geführt.« Der Junge lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. Sein Gesicht war blaß vom Blutverlust.
»Ist sie tot?« fragte Rugar.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Junge.
»Hast du sie nicht beschützt?« Rugar erhob sich. Jetzt hatte er einen Grund für seinen Zorn gefunden, etwas, das von seiner eigenen Schuld ablenkte.
»Ich bin bei ihrer Verteidigung fast ums Leben gekommen.« Der Junge stieß sich vom Türrahmen ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er wußte, daß er durch diese Haltung den Anwärter auf den Königsthron der Fey herausforderte, aber sein Zorn war so übermächtig, daß ihn das nicht davon abhielt.
Rugar kannte dieses Gefühl. Er hatte es auf Hunderten von Schlachtfeldern erlebt. »Was ist geschehen?«
»Sie haben sie gefangengenommen.«
»Gefangengenommen?« Ungläubig sprach Rugar das Wort nach. »Sie haben Gefangene gemacht?« Das hörte er zum ersten Mal. Für ein Volk ohne kriegerische Erfahrung war das Verhalten der Inselbewohner unerwartet klug.
»Sie haben nur eine einzige Gefangene gemacht.«
Die kostbarste. Jewel. Rugar ließ sich auf die Matratze sinken. Sie fühlte sich steinhart an. Alle schmerzlichen Erfahrungen stiegen in ihm auf, zusammen mit einer Panik, wie er sie noch nie kennengelernt hatte. »Woher wußten sie, wer sie war?«
»Sie schien den Mann, der sie gefangennahm, zu kennen. Sie hat auf Nye mit ihm gesprochen und ihn verschont.«
»Sie hat ihn verschont?« Was der Junge da erzählte, ergab überhaupt keinen Sinn. Jewel – die Befehle nicht befolgt!
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