Fey 02: Das Schattenportal
Schwäche, die jedem neuen Hüter zu schaffen machte.
Was ihnen allerdings jetzt nicht weiterhalf.
»Sag mir deinen Zauberspruch«, sagte Caseo. »Ich übertrage ihn.«
Streifer sah ihn zweifelnd an. »Kannst du das? Ich dachte, nur der Schöpfer des Zaubers ist dazu fähig.«
Caseo schüttelte den Kopf. »Es ist einfacher, wenn der Urheber des Zaubers die Übertragung vornimmt, aber es können auch andere für ihn tun. Auf diese Weise dauert es nur länger.«
Streifer fuhr mit der Hand am Tischrand entlang. »Selbst wenn es dir gelänge«, sagte er, »wie willst du ihn überprüfen? Jewels Schoßhündchen können wir dafür nicht einsetzen, sonst zahlt sie es uns auf andere Weise heim.«
»Rugar und ich haben uns geeinigt«, erwiderte Caseo. »Jewel behält ihr Schoßtier und läßt den Jungen frei. Zum Ausgleich für meinen guten Willen bekomme ich den alten Gefangenen. Den unangenehmen Burschen. Und den hebe ich mir für einen Anlaß wie diesen auf.«
»Dann haben wir also nur eine Chance«, sagte Streifer.
Caseo lächelte ihn an. »Wir brauchen auch nur eine. Wenn er stirbt, dann hat unser Zauber die gewünschte Wirkung entfaltet.« Er beugte sich nach vorne. Seine Müdigkeit schien vergessen zu sein. »Verrate mir deinen Zauber, mein Junge. Laß uns diese Inselbewohner ein für allemal vernichten.«
31
Titus weinte. Er war auf der Straße unterwegs, die sich außerhalb von Jahn zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Er wußte, daß er nicht weinen sollte, so wie er auch gewußt hatte, daß er nicht weinen sollte, als seine Eltern ihn vor zwei Jahren in die Stadt geschickt hatten. Der Heiligste sollte über ihn wachen, seine Gebete in Gottes Ohr tragen. Den Heiligsten hatte er bis jetzt noch nicht gesehen, aber er hatte einen Fey gesehen, und, Gott möge ihm vergeben, er glaubte an die Fey. Er wußte, wozu sie fähig waren.
Die Tränen kamen in Schüben. Er hatte schon fast den ganzen Tag über geweint, auch wenn er momentan nur schniefte. Seine Augen fühlten sich geschwollen an, seine Kehle schmerzte. Wenn ihn jemand so sah, würde er ihn für verrückt halten.
Aber er war noch nie zuvor so weit westlich von Jahn gewesen. Tief unten hörte er den Fluß rauschen. Die Bäume bildeten ein angenehmes Schattendach gegen die heiße Sonne. Er hatte vergessen, wie sehr er Bäume mochte, wie sehr sie ihm gefehlt hatten. Als er sich bereit erklärt hatte, ein Aud zu werden (»Zweitgeborene«, hatte ihn sein Vater ermahnt, »Zweitgeborene gehen immer in die Religion«), war ihm nicht klar gewesen, daß man ihn in die Stadt schicken würde, wo alles heiß, stinkend und von Staub überdeckt war.
Sein Vater war stolz auf ihn. (»Sie schicken dich hinauf, mein Sohn, weil du klug bist. Nur die schlauen Bürschlein kommen in diesen Tabernakel.«) Sein Vater würde noch stolzer auf ihn sein, wenn er erfuhr, mit welch ehrenvoller Aufgabe der Rocaan Titus betraut hatte. Titus hatte den Rocaan vor diesem frühen Morgen noch nie zuvor gesehen, außer zu zeremoniellen Anlässen. Einmal hatte er die Hand des Rocaan geschüttelt, als dieser am Auds-Tag in die Kapelle der Bediensteten gekommen war, und einmal, ein paar Wochen zuvor, hatte er gemeinsam mit den anderen Auds den Segen des Rocaan empfangen.
Heute morgen hatte er den Segen des Rocaan abermals empfangen. Nur war Titus diesmal ganz allein im Zimmer gewesen. Aus der Nähe gesehen war der Rocaan ein alter Mann, der auch nach altem Mann roch. Der Saum seiner Robe war fleckig – eine Nachlässigkeit, für die die Daniten Titus bestraft hätten. Der Anblick hatte ihm mißfallen. Fast hätte es ihn davon überzeugt, daß der Rocaan nur ein Mensch war. Nach der Segnung hatte der Rocaan Titus an der Schulter berührt und ihn gefragt, ob er mutig sei.
Er hatte mit einem Ja geantwortet. Was hätte ein Junge Angesicht zu Angesicht mit seiner Verbindung zu Gott sonst antworten sollen?
Der Rocaan hatte gelächelt und ihm dann seine Erste Weisung aufgetragen. Die anderen Auds im zweiten Jahre waren neidisch. Welcher Aud bekam schon seine Erste Weisung vom Rocaan persönlich? Wenn sie jedoch wüßten, wie die Weisung lautete, wären sie froh, daß Titus und nicht sie damit beauftragt waren.
Titus blieb stehen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Er würde nicht mehr weinen. Nein, bestimmt nicht. Der Rocaan hatte ihm gesagt, daß es heilig war, im Dienste Gottes zu sterben.
Aber er war erst vierzehn Jahre alt. Warum sollte Gott ihn schon
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