Fey 02: Das Schattenportal
Wochen der Gottgefällige gewesen, und schlimmer noch war es dem Fünfundzwanzigsten Rocaan ergangen, der von einem wahnsinnigen Aud direkt nach der Zeremonie erstochen wurde. Das Durchschnittsalter traf auch nicht auf seinen direkten Vorgänger zu, den neunundvierzigsten Rocaan, der schon als Junge von der Hand Gottes berührt, im Alter von dreißig Jahren Rocaan geworden und über sechzig Jahre der Gottgefällige gewesen war.
Die mündliche Überlieferung war eine unzuverlässige Sammlung von Geschehnissen, zusammengestellt von Männern, die keine Vorstellung davon hatten, welche Dinge für den Glauben von Wichtigkeit waren und welche nicht. Wer waren die Soldaten des Feindes? Nicht einmal Matthias konnte das genau bestimmen. Auch der Rocaan fand in den Geschriebenen und Ungeschriebenen Worten keinerlei Hinweise auf sie. Er wußte, daß es noch andere Gemälde von ihnen gab, außer dem, das die Aufnahme des Roca in die Hand Gottes darstellte. Und darin waren sie kleine, in Rüstungen gekleidete Figuren, die dem Betrachter den Rücken zuwandten oder deren Gesichter vom strahlenden Licht des Roca verdunkelt wurden.
Die Beine des Rocaan drohten unter ihm nachzugeben. Er wankte zu einem Stuhl, ließ sich darauf nieder und schlug die Hände vors Gesicht. Bisher hatte die Blaue Insel keine Geschichtsschreibung benötigt. Die Inselbewohner waren eine Gemeinschaft, die sich durch ihre Heimat definierte, die wiederum durch Flüsse, Sümpfe und Berge unterteilt war. Wenn sie von Historie sprachen, dann benutzten sie sie fast ausschließlich zum Erzählen von Geschichten, nicht so wie die Nye, die davon überzeugt waren, daß nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit das Geheimnis ihrer Existenz barg. Die Inselbewohner glaubten, Gott hüte dieses Geheimnis, und der Glaube an Gott genügte allen ihren Bedürfnissen.
Jedenfalls bis zum vergangenen Jahr.
Inzwischen fragte er sich, ob die Nye nicht recht hatten. Und ob die Inselbewohner nicht mehr als nur ihre Geschichten verloren hatten, als sie sich von ihrer Vergangenheit verabschiedeten. Der Rocaan war ein alter Mann, und er erinnerte sich nur noch an wenig aus seiner Kindheit. Der König konnte seinen Stammbaum aufsagen, eine lange Folge von Namen, die bis auf den Roca selbst zurückführte. Der Rocaan lehnte den Kopf an die Stuhllehne und flüsterte: »›Und als der Roca in den Himmel auffuhr, traten seine beiden Söhne vor. Der ältere sagte, er würde an des Roca Statt als Führer der Menschen eintreten, und es kam eine Stimme vom Himmel – mit einem gewaltigen Donnerschlag – und befahl, daß der zweite Sohn den Platz des Roca als der Gottgefällige einnehmen solle. Und von dieser Stunde an konnten nur zweitgeborene Söhne Älteste und danach Gottgefällige werden.‹«
Der Rocaan selbst war ein Zweitgeborener, so wie es auch der Rocaan vor ihm und der Rocaan vor jenem gewesen war.
Der König war immer der älteste Sohn. Eigenartig, daß der in den Ungeschriebenen Worten wurzelnde Befehl besagte, daß »zweitgeborene Söhne Älteste und dann Gottgefällige werden können«. Nicht die Zweitgeborenen des Königs, auch nicht die Zweitgeborenen des Rocaan, sondern einfach nur Zweitgeborene. Als hätte man den Zusatz weggelassen. Warum sollte man das Königtum erblich machen, das Amt des Rocaan jedoch nicht? Hatte der Rocaanismus seine Macht verloren, weil der Rocaan nicht von königlichem Geblüt war?
Trotz der Hitze des Feuers zitterte der Rocaan. Ein kalter Schauer war ihm in den Nacken und dann den Rücken hinuntergekrochen. Alexander hatte nur ein Kind gehabt, einen Sohn. Auch Alexanders Vater hatte nur ein Kind gehabt. Es gab keine Möglichkeit, um die Theorie zu überprüfen, daß auch der zweitgeborene Sohn des Königs den Thron besteigen würde, wenn man ihn mit Weihwasser und einem Zeremonienschwert berührte. Hatte ein König versagt und keine zwei Söhne gezeugt? Hatte ein Rocaan sich nicht fortgepflanzt? War der Ausschluß der Frauen dem Rocaanismus von Anfang an zu eigen gewesen? Nicht einmal das wußte der Rocaan.
Als der neunundvierzigste Rocaan ihn an sein Totenbett hatte rufen lassen, hatte der Sterbende die Stirn des Jüngeren mit einem mit Weihwasser benetzten Finger berührt und ein Schwert darauf gemalt. Du wirst der Gottgefällige sein, hatte der sterbende Rocaan gesagt. Dann hatte er die Augen geschlossen und geflüstert: Möge Gott mir vergeben. Seit Jahrzehnten fragte sich der Rocaan, was sein Vorgänger damit gemeint haben mochte.
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