Fey 02: Das Schattenportal
Fingern der freien Hand die Krümel des ersten auf.
»Kennst du noch andere Jungs, die solche Geschichten zu erzählen wissen?« fragte der Rocaan.
»Wir reden nicht miteinander, Heiliger Herr«, sagte der Junge, und der Rocaan mußte über seine eigene Dummheit lächeln. Natürlich unterhielten sich die jungen Burschen nicht. Auds war es verboten, miteinander zu reden, weil man glaubte, sie könnten ohnehin nichts voneinander lernen. Sie waren Unschuldige und sollten in gleichem Maße Unschuldige bleiben. Nur von Höhergestellten konnten sie etwas lernen. Die Regel sorgte nicht nur dafür, daß sich die Auds nicht untereinander verbündeten, um gemeinsam gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren, sie sorgte auch dafür, daß Geschichten wie die soeben gehörte in Vergessenheit gerieten.
Wie viele der Auds, mit denen der Rocaan gedient hatte, hatten diese Geschichte gekannt? Und wie viele andere Geschichten hatten die Ältesten über all die Jahre schon unterdrückt?
»Vielen Dank, daß du einem alten Mann gefällig warst, mein Junge«, sagte der Rocaan. »Wenn du gehst, suche doch bitte den Ältesten Eirman auf und bringe ihn zu mir.«
»Ihr werdet ihm doch nichts über mich erzählen, oder?« fragte der Junge und schlug die Hände vor den Mund. Langsam ließ er sie wieder sinken. Sein Gesicht war flammend rot. »Entschuldigt, Heiliger Herr. Euch ist die Weisheit Gottes zuteil.«
Und manchmal reichte nicht einmal die Weisheit Gottes aus. Der Rocaan lächelte ihn an. »Ich werde dein Geheimnis bewahren, mein Junge.«
Der Aud verneigte sich. »Vielen Dank, Heiliger Herr«, sagte er. Dann nahm er sein Brot und verließ das Zimmer.
Erschöpft von dieser Begegnung lehnte sich der Rocaan zurück. Geschichten über den Roca, die außerhalb der Religion existierten. Er hätte niemals daran gedacht, wenn er sich nicht so intensiv damit beschäftigt hätte. Vielleicht wußten alle Auds, wenn er sie nur danach fragte, eine andere Geschichte zur Herkunft des Roca zu erzählen. Vielleicht war es bei den Daniten das gleiche, obwohl er bezweifelte, daß sie etwas preisgeben würden. Wenn schon dieser Junge sich nach wenigen Monaten als Aud fürchtete, wie erging es dann wohl den Daniten, die schon mindestens ein Jahrzehnt mit diesem Geheimnis lebten?
Es war an der Zeit, die Religion von ihren Beschränkungen zu befreien. Die Ankunft der Fey hatte ihn dazu veranlaßt, das Weihwasser in Frage zu stellen. Vielleicht brachten ihn die Fey dazu, noch ganz andere Dinge anzuzweifeln. Vielleicht waren die Fey überhaupt nicht böse, sondern nur eine Prüfung zur Reinhaltung des Glaubens.
10
Der kleine Dreckskerl hatte ihn um die Chance gebracht, mit dem Wasser zu arbeiten. Caseo rieb sich aufgebracht die Hände. Die Hüter waren weggegangen, bis auf Streifer, den jüngsten, und Rotin, die Zweitälteste! Sie schienen über den Mangel an Fortschritten ebenso enttäuscht zu sein wie Caseo. Und dann mußte ihn diese elende Rotkappe auch noch im Stich lassen! Das Leben einer Rotkappe war wertlos. Da hätte diese Kreatur einmal etwas Sinnvolles tun können, und prompt versagt sie. Statt dessen packt den Kerl die Angst, obwohl er ihnen die Antwort hätte liefern können, wie der Zauber der Inselbewohner funktionierte.
Streifer hängte Fey-Lampen auf. Rotin hatte den kahlen Kopf in den verschränkten Armen vergraben, als wäre sie von der Arbeit des Tages erschöpft. Caseo wußte es besser. Er und Rotin arbeiteten schon seit frühester Kindheit zusammen. Sie kam immer dann auf die besten Gedanken, wenn sie müde und frustriert war und sich irgendwo versteckte.
Er streifte die Handschuhe über, die die Hausdiener ihm eigens für die Arbeit mit dem Gift angefertigt hatten. Obwohl er auf den Zauber vertraute, war er trotzdem vorsichtig. Bis jetzt hatte er noch keinen Tropfen darauf vergossen. Seine Hände zitterten nicht. Das taten sie erst spät in der Nacht, nachdem alle anderen gegangen waren und er allein war. Dann fing er unter der Belastung der täglichen Risiken am ganzen Körper zu zittern an. Er ging um den Tisch herum und holte zwei Schalen. Eine war nur mit Wasser gefüllt, in der anderen lag ein Streifen Haut von einem Inselbewohner. Er stellte sie zu den anderen Schalen, die einen Zoll hoch mit Gift gefüllt waren und von mißlungenen Experimenten zeugten. Sie standen in der Ecke auf einem Tisch, geschützt von Caseos mächtigstem Zauberspruch, damit niemand zufällig dagegenstieß.
»Es scheint mir ganz so«,
Weitere Kostenlose Bücher