Fey 02: Das Schattenportal
müssen. Vielleicht war auch das nicht richtig. Vielleicht mußte sehr vieles im Rocaanismus neu überdacht werden.
»Erzähle, mein Junge«, sagte er leise.
Der Junge kaute und schluckte. Der Rocaan reichte ihm den Met, und der Junge nahm einen kleinen Schluck. Dann seufzte er, als wüßte er, daß er nicht mehr darum herumkam, dem Rocaan das zu erzählen, was er wissen wollte.
»Die Leute in den Schneebergen erzählen sich, der Roca sei ebendort einer armen Familie während eines Schneesturms geboren worden. Grüne Blitze mischten sich mit dem Schneetreiben, so gewaltig war das Unwetter an jenem Abend.« Der Junge sah den Rocaan beim Reden nicht an. Er riß das Brot in seiner Hand in kleine Stückchen und legte sie auf sein Gewand. »Die Leute wagten sich aus lauter Angst vor dieser gewaltigen Macht nicht in die Nähe dieser Familie. Damals glaubten sie nicht an Gott, wußten nichts von der Weisheit oder von sonst etwas jenseits dieses leidvollen Lebens.«
Der Rocaan senkte den Löffel. Diese Geschichte war alt. Er hörte es aus dem Tonfall des Jungen heraus, aus dem Rhythmus der Geschichte selbst. Der Junge sprach die Worte so aus, wie der Rocaan die Ungeschriebenen Worte aussprach: Es war etwas, das er schon so früh gelernt hatte, daß es ein Teil von ihm geworden war.
»Als der Roca älter geworden war, hieß es, der Wind gehorche seinem Befehl. Er konnte einen Sturm herbeirufen oder abwenden, was er auch oft tat, um das Land seiner Familie zu schützen. Als er erfuhr, daß andere Jungen nicht über diese Fähigkeit verfügten, lief er in die Berge, um herauszufinden, warum er auserwählt worden war.« Der Junge schob ein Stück Brot in den Mund und kaute. Er warf dem Rocaan einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu und sah rasch wieder weg.
»In jener Nacht erhob sich ein gewaltiger Sturm, doch als es aufklarte, sahen die Leute, daß auf den Bergspitzen kein Schnee lag. Die Schafhirten behaupteten, der Sturm habe an der Baumgrenze aufgehört und daß die Sonne sich gezeigt habe, obwohl es dunkel gewesen sei. Nach dieser Nacht stieg der Roca herab und berichtete den Leuten aus dem Tal von Gott. Er sagte ihnen auch, daß sie ohne seine Führung in einem großen Krieg sterben würden, und sie alle verneigten sich und beteten ihn an. Der Roca blieb im Tal, bis die Soldaten des Feindes eintrafen, dann nahm er sein Weib und seine Söhne mit sich und zog nach Jahn.«
Der Rocaan griff nach dem Becher und nahm einen großen Schluck Met. Die Geschichte fand sich nicht in den offiziellen mündlichen Überlieferungen, und sie stand auch in keinem der gelehrten Bücher. Dabei erzählte sie von einem Zeitraum, der seines Wissens von keiner anderen Geschichte abgedeckt wurde.
»Warum hältst du das für Gotteslästerung, Junge?« fragte er.
Der Junge wollte gerade das nächste Stück Brot essen, legte es aber wieder in seinen Schoß. »Weil es von den Schneebergen handelt. Es hört sich an, als gehörte der Roca nur den Leuten von dort, als stamme er von ihnen ab.«
»Aber die Geschichte macht auch deutlich, daß sie ihn als Außenseiter behandelten und große Angst vor ihm hatten.«
Der Junge nickte. »Ich habe dem Ältesten Eirman davon erzählt, doch er sagte, ich solle nicht auf derlei Sagen hören und mich lieber meinen eigenen Studien widmen.«
»Ich werde mit dem Ältesten Eirman reden. Als unser Historiker sollte er diese Geschichten erforschen und sie nicht in Abrede stellen.«
»Dann haltet Ihr sie also nicht für gotteslästerlich?« Der Junge sprach hastig, seine Stimme zeugte von seiner Jugend und dem Ausmaß seiner Furcht.
»Wenn es eine Gotteslästerung ist, dann sicherlich nicht die deine. Und wer kann das überhaupt zu so einem frühen Zeitpunkt wissen? Wir wissen nicht, woher der Roca kam und was er getan hat, bevor er gegen die Soldaten des Feindes kämpfte. Womöglich ist deine Geschichte ja wahr.«
»Wenn sie wahr ist«, flüsterte der Junge, »warum spricht man nicht in der Kirche davon? Warum erzählt man sie sich nur spät am Abend, mit gedämpfter Stimme, als fürchteten sich die Leute davor, Gott könne sie hören?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete der Rocaan und gab dem Jungen noch ein Stück Brot. »Ich danke dir dafür, daß du mir die Geschichte erzählt hast. Deine Seele ist in Sicherheit. Du bist unschuldig und hast nichts Schlechtes getan.«
Dem Jungen stiegen Tränen in die Augen, doch er hielt sie niedergeschlagen. Er nahm das zweite Stück Brot entgegen und las mit den
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