Fey 03: Der Thron der Seherin
hatte seine Geburt sie nur noch beweglicher gemacht. Tatsächlich übte sie sich mit ihrem Ehemann im Schwertkampf. Sie und Nicholas waren einander während einer Schlacht begegnet und hatten sich als ebenbürtige Gegner erwiesen. Seit sein Waffenmeister im Jahr des Krieges gestorben war, hatte Nicholas niemanden mehr gehabt, der ihn unterrichtete. Mit Nicholas zu trainieren war eine gute Übung in körperlicher Kraft und Reaktionsvermögen, weil keiner von beiden dem anderen unter- oder überlegen war.
Natürlich war der König am Anfang dagegen gewesen, zuerst aus Angst, Jewel würde die Trainingsstunden als Vorwand benutzen, Nicholas zu töten. Als klar wurde, daß sie weiterzumachen gedachte, warnte sie ein Berater des Königs (niemals der König selbst), daß ein solches Benehmen äußerst undamenhaft sei. Jewel hatte gekontert, daß Nähen Fey-Frauen nicht gebühre, obwohl das nicht stimmte. Wäre sie als Domestikin aufgewachsen, dächte sie anders darüber, aber sie war schließlich die Enkeltochter des Schwarzen Königs, eine Visionärin und Kriegerin, und hatte noch nie in ihrem Leben eine Nähnadel angerührt.
Verglichen mit der überheizten Kinderstube war es im Flur angenehm kühl. Die Kinderstube lag in dem Stockwerk, das Jewel sich mit Nicholas teilte. Eigentlich sollten sie getrennte Zimmerfluchten bewohnen, aber das hatten sie von Anfang an anders gehandhabt. In Nicholas’ Gemächern schliefen sie. Die Kinderstube lag in Jewels Trakt.
Was Jewel einen Korridor nannte, war nach Inselmaßstäben eher eine Galerie, so hatte Jewel es jedenfalls in den Großen Häusern der Nye gelernt. Der Raum war so breit wie viele der Zimmer, in denen Jewel gewohnt hatte, und so lang wie das ganze Stockwerk. Porträts der Prinzen und ihrer Gemahlinnen, alle mit ernsten, groben Gesichtern, bedeckten die Wände. Jewels eigenes Porträt war kurz nach Sebastians Geburt gemalt worden, und obwohl sie während der Schwangerschaft zugenommen hatte, wirkte sie verglichen mit den anderen Prinzessinnen fast hohlwangig, dunkel und exotisch. Alle anderen waren aus ein und demselben Holz geschnitzt: unglaublich blondes Haar, verwaschene, blaue Augen, bleiche Haut (»wie Alabaster«, hatte Nicholas einmal leichtfertig bemerkt) und runde, rosige Wangen. Als Jewels Porträt neben dem von Nicholas aufgehängt worden war, hatte das religiöse Oberhaupt der Inselbewohner, der Rocaan, verstohlen bemerkt, Jewel sähe aus wie ein Dämon unter lauter Engeln.
Jewel blickte auf die an den Wänden aufgereihten Stühle. Wüßte sie nicht, daß es sich um die unbequemsten Sitzgelegenheiten zweier Kontinente handelte, hätte sie sich einen Moment auf einem von ihnen niedergelassen. Aber der Page hatte zur Eile gedrängt, und je schneller sie Nicholas fand, desto eher würde sie sich ausruhen können.
Sie machte kehrt, bevor sie ihr Porträt erreichte, und nahm die Treppe nach unten, wobei sie sich am Geländer festhielt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Stufen waren aus Stein und ziemlich scharfkantig. In ihren Alpträumen fiel Jewel diese Treppe hinunter, schwanger und unfähig, wieder aufzustehen, aus unzähligen Wunden am Rücken und der Seite blutend, das Ungeborene tot in ihrem Leib.
Weil die Alpträume aber nur kamen, wenn sie schlief, wußte sie, daß es sich nicht um Visionen handeln konnte.
Am Fuß der Treppe machte sie eine Pause. Das Kind nutzte diesen Augenblick, um wieder zu treten. Jewel legte die Hand auf die Bewegung, fühlte die Ausbuchtung …
… und plötzlich befand sie sich im Westflügel. Ein junges Mädchen, das Jewel noch nie gesehen hatte, saß auf der Fensterbank und blickte hinunter in den Garten. Das Mädchen hatte schwarzes Haar, und seine Haut war nicht ganz so dunkel wie Jewels, aber als sie sich umdrehte und das Gesicht dem Zimmer zuwandte, erinnerten ihre Züge entfernt an Nicholas. Jewel schlich sich näher heran. Das Mädchen trug ein fließendes Gewand. Eine Zofe stand neben dem Frisiertisch und ermahnte es, sich anzuziehen, aber das Mädchen lehnte sich wieder aus dem Fenster und beobachtete, wie sich im Garten etwas bewegte.
Jewel stand jetzt direkt hinter dem Mädchen. Der Garten war sonnenüberflutet, die Blumen berauschend üppig. Dort, zwischen ihnen, stand ein Junge, der nur wenig älter war als das Mädchen. Groß, schlank, anmutig, mit tiefschwarzem Haar …
… und dann war Jewel wieder im Treppenhaus und lehnte sich keuchend an die Wand. Die Steine in ihrem Rücken waren kalt,
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