Fey 03: Der Thron der Seherin
aber der Schmerz in der Herzgegend hatte nachgelassen.
Eine Vision. Das Mädchen in der Vision hatte ausgesehen wie Nicholas mit Fey-Zügen. Und ihr Gesicht war lebendig, ihre Augen blitzend vor Neugier, ihre Bewegungen so flink, wie die Sebastians niemals waren. Eine Vision. Über ihr zweites Kind, nicht ihr erstes.
Jewel schloß die Augen und fühlte, wie Erleichterung sie durchströmte. Mit diesem Kind würde alles in Ordnung sein. Dieses Kind würde die in es gesetzten Hoffnungen erfüllen. Dieses Kind hatte sogar eine Vision ausgelöst. Jetzt schon. Derartig mächtige Zauberkraft war hier am Werk. Visionäre hatten nur äußerst selten Visionen über noch ungeborene Kinder.
Von der Intensität ihrer Vision noch immer verwirrt, schritt Jewel schwerfällig weiter die Treppe hinab. Bestimmt hatte man schon ohne sie mit der Versammlung begonnen. So war es auch gewesen, als sie mit Sebastian schwanger war. So früh schwanger zu werden war ein Fehler gewesen. Sie hätte sich ihre Kraft in den ersten Jahren aufsparen, sie nicht Kindern und Tradition opfern sollen. Sie war hier, um die Fey und die Inselbewohner zu einen, und das bereitete ihr noch immer große Schwierigkeiten. Die Inselbewohner ließen nicht zu, daß sie, die Frau des Thronerben, sich an den Staatsgeschäften beteiligte. Nicholas war der einzige, der das anders sah, aber er war Prinz, nicht König.
Jewel hatte noch andere Probleme. Ihr eigenes Volk weigerte sich, im Palast zu arbeiten. Einige hatten es versucht, hatten aber die Flucht ergriffen, weil sie sich durch das Gift der Inselbewohner bedroht fühlten. Jewel hatte den Verdacht, daß die Inselbewohner die Fey oft gar nicht absichtlich bedrohten, sondern nur auf Provokationen reagierten, aber mit dieser Ansicht stand sie auf verlorenem Posten. Ihr Freund Burden hatte eine Fey-Kolonie außerhalb des Schattenlandes eingerichtet, aber dieser Ort hatte sich in eine isolierte Gemeinschaft verwandelt, die nur das Sonnenlicht von den grauen Schattenlanden unterschied.
Angst. Jewel versuchte, die Angst zu bekämpfen und dazu noch ein Vorurteil, von dem sie noch nicht einmal gewußt hatte, daß es existierte, als sie diesen Pakt geschlossen hatte. Und daß Sebastian ein Schwachkopf war, machte alles nur noch schlimmer.
Schützend umschloß sie ihren Bauch mit den Händen. Dieses Baby würde beweisen, daß die Verbindung zwischen einer Fey und einem Inselbewohner kein Fehler gewesen war, daß die beiden Kulturen sich tatsächlich vereinen ließen.
Und das mußten sie auch, damit der Rest von Jewels Plan aufging, der Plan, den sie einst ihrem Vater vorgeschlagen hatte.
Als Jewel Nicholas geheiratet hatte, hatte sie noch geglaubt, Fey und Inselbewohner auf der Blauen Insel würden sich einfach vermischen, zu einem Volk zusammenwachsen. Beschlösse dann Jewels Großvater, der Schwarze König, schließlich doch, die Insel zu erobern, würde er entdecken, daß sie bereits Teil des Imperiums der Fey geworden war. Statt sie mit Gewalt zu besetzen, würde sie auf sanfte Art enteignet, durch Vermischung des Blutes, durch neue Familien, die die Fey gemeinsam mit Inselbewohnern gründeten.
Die Stufen führten auf direktem Wege zu jenem Flügel des Palastes, in dem sich das Audienzzimmer befand. Ausnahmsweise war Jewel dankbar für dessen Nähe. Sie ersparte ihr eine endlose Wanderung.
So schnell sie konnte, durchquerte sie den Großen Empfangssaal. Hier, in Nicholas’ Lieblingsraum, hatte das Hochzeitsbankett stattgefunden. Der Saal war lang und breit und besaß eine gewölbte Decke, weil er zwei Türme und kein weiteres Geschoß über sich hatte. Die ebenfalls bogenförmigen Fenster paßten harmonisch zur Decke und waren – eine Seltenheit in diesem Palast – ausnahmslos verglast.
Dieser Saal war der am wenigsten inseltypische Raum. Schwerter hingen an der Wand, aber sie dienten hier keinesfalls religiösen Zwecken. Die Inselbewohner waren kein kriegerisches Volk – vor der Ankunft der Fey waren sie noch niemals von außen angegriffen worden –, aber auch sie hatten mit Aufständen und Revolten zu tun gehabt. Die Halle kündete von einer Macht, von der die restlichen Räume schwiegen.
Trotzdem hielt sich Jewel nicht lange auf. Jetzt fühlte sie die Dringlichkeit ihres Erscheinens noch stärker als vorhin, als der Page sie aufgesucht hatte. Sie trat durch die Tür, die sich auf den Korridor zum Audienzzimmer öffnete.
Vier Wachtposten standen vor der schweren Eichentür. Natürlich waren auch sie
Weitere Kostenlose Bücher