Fey 03: Der Thron der Seherin
Auf dem Wachturm standen zwei Posten. Noch bevor er am Tor angekommen war, hatten sie bereits ihre Bogen erhoben und gespannt.
Er hielt die Hände hoch. »Ich bin Lord Stowe. Ich muß dringend zum König.«
Einer der Posten rief einen Befehl nach unten. Fast im selben Moment ertönte ein knarrendes Geräusch, und das Tor wurde hochgezogen. Stowe bedankte sich mit einem Nicken und lenkte sein Pferd in leichtem Trab in den Innenhof.
Hier machte alles einen ziemlich normalen Eindruck. Die Küchentür stand offen, und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Die Stallburschen versorgten die Pferde, und die Dienstboten eilten zwischen ihrem Trakt und dem Palast hin und her.
Es waren die kleinen Abweichungen von der Palastroutine, die Stowe das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Neben jeder Tür standen mit Schwertern, Dolchen und Bogen bis an die Zähne bewaffnete Wachtposten. Viele hatten ihre Köcher direkt neben ihren Füßen liegen. Alle beobachteten ihn aufmerksam, als er sich jetzt näherte.
Er führte sein Pferd zum Stall und saß ab. Der Bursche, der herauskam, um es entgegenzunehmen, hatte ein schmales, erschöpftes Gesicht. Er sah aus, als hätte er seit Tagen kein Auge zugetan.
»Was ist hier vorgefallen?« fragte Stowe.
Der Mann strich über die Flanke des Pferdes. Der Hengst war schmutzig; er war zwar so gut wie möglich versorgt worden, aber Stowe hatte ihn bis zur Erschöpfung geritten. »Da fragt Ihr am besten einen anderen Lord, Herr«, entgegnete der Mann und wollte den Hengst wegführen.
»Halt!« rief Stowe.
Ohne sich umzudrehen, blieb der Mann stehen. Er war stämmig, jünger, als es auf den ersten Blick schien, und sehr gepflegt. »Dieses Pferd ist tagelang schnell geritten worden. Kümmere dich besonders gut um das Tier.«
»Ja, Herr.« Damit verschwanden Stallbursche und Pferd im Stall.
Sie waren kaum außer Sicht, als einer der Wachtposten auf Lord Stowe zukam. Er war kräftig gebaut und muskelbepackt. Die blauen Augen in seinem breiten Gesicht waren unverhältnismäßig klein, und er hatte auffallend dicke Lippen. Auf beiden Wangen waren schmale weißen Narben zu erkennen, als habe er schon Dutzende von Kämpfen überstanden, die meisten davon nicht unverletzt.
»Was führt Euch hierher?« fragte der Mann.
»Ich muß sofort zum König«, erwiderte Stowe. So etwas war er hier noch niemals gefragt worden. Er streckte seine Hand zur obligatorischen Weihwasserprüfung aus.
Der Wachtposten blickte hinunter. »Das ist unwichtig«, sagte er. »Ich brauche Eure Waffen.«
Stowe führte seine Hand zum Schwert, wollte es aber nicht hergeben, bevor er wußte, was hier vor sich ging. »Was ist geschehen?«
»Ihr kommt vom Rocaan, richtig?«
»Nein«, gab Stowe zurück. »Ich bin einer der Lords, die König Alexander auf seiner Reise begleitet haben. Ich habe Nachforschungen über seinen Tod angestellt. Ich wollte nach Hause, um mich zu waschen, aber es scheint, als hätten sich hier merkwürdige Dinge ereignet.«
»Wißt ihr es denn noch nich’?«
»Was denn?« fragte Stowe.
»Daß der Rocaan die Königin getötet hat?«
Stowe hielt den Atem an. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Was?« keuchte er.
»Beim Gottesdienst. Geschmolzen hat er sie, jawoll.«
Stowe blinzelte, versuchte zu verstehen, welche Konsequenzen diese Tat haben würde. Jewel war tot? Ein Fey hatte König Alexander ermordet, und nur wenige Tage später starb Jewel durch die Hand des Rocaan.
»Hat er sie mit Weihwasser berührt?« fragte Stowe.
»Ich war nich’ dabei. Ich hab’s nur gehört. Aber ihre Leiche, die hab’ ich gesehn, und sie hat genauso wie die andern Fey ausgesehn, die Weihwasser abbekommen haben.«
»Mein Gott«, sagte Stowe. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Er mußte unbedingt zu Nicholas und sehen, wie es ihm ging. »Wann ist das passiert?«
»Gestern. Die Fey gingen bis zum frühen Morgen in der Küche ein und aus. Seither ham wir nix mehr von denen gesehn.«
Deswegen hatte der Wachtposten also auf die Weihwasserprüfung verzichtet und gefragt, ob Stowe vom Tabernakel kam. Im Moment behandelte Nicholas nicht die Fey als seine Feinde, sondern den Rocaan.
Stowe fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Vom langen Ritt war die Haut ölig und schmutzverschmiert. Seine Neuigkeiten würden wieder alles in einem anderen Licht erscheinen lassen. Er seufzte, löste dann langsam Schwert und Dolch aus dem Gürtel und überreichte sie dem
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