Fey 04: Die Nebelfestung
Der Klumpen hatte sich näher herangeschoben. Seine Haut war überraschend warm. Er hatte den Zeigefinger in den Mund gesteckt und blickte aufmerksam in die Wiege.
Langsam zog er den Finger aus dem Mund. Von der Fingerspitze tropfte Speichel. Die Schwester nahm seine Hand, bevor er den Säugling berühren konnte.
Sein Blick wanderte zur Kinderfrau. »Ist das meine Schwester?« fragte er. Er sprach zögernd. Und langsam. So langsam, wie er sich bewegte.
Die Kinderfrau warf Solanda einen unsicheren Blick zu. Solanda fragte sich, warum.
»Natürlich«, erwiderte sie. »Ihr Name ist Arianna.«
»Ari Anna«, sagte der Klumpen. »Ari Anna.«
Jetzt stiegen der Kinderfrau Tränen in die Augen. »Er hat noch nie mehr als zwei Worte gesagt. Aber er hat um seine Mutter geweint.«
»Ari Anna«, wiederholte der Klumpen. »Hübsch.«
»Was sagt er?« flüsterte die Kinderfrau.
Solanda lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Sie hatte es nicht gleich bemerkt. Kein Wunder, daß die Kinderfrau ihn nicht verstand.
Der Klumpen sprach Fey.
3
Nicholas war immer noch in seinen Privatgemächern und verspeiste das Gebäck, das ihm der Koch zum Frühstück hatte schicken lassen. Er hielt eine Tasse Kräutertee in der Hand und verschmähte die warme Milch, auf der sich inzwischen eine dünne Haut gebildet hatte. Seit Jewels Tod hatte der Koch Nicholas’ Frühstück um einen Becher Milch erweitert. Nicholas wollte nicht wissen, warum. Wahrscheinlich sollte er es sich besonders gut ergehen lassen, solange er in Trauer war.
Im Kamin prasselte ein Feuer. Er hatte das Schlafzimmer verlassen und sich im Wohnzimmer so nahe wie möglich an den Flammen niedergelassen. Er schlief nicht gut und in manchen Nächten schlief er überhaupt nicht. Aufgrund des Schlafmangels war ihm ständig kalt. Er hatte nicht einmal die dicken Vorhänge zurückgezogen, wie er es sonst immer im Frühling tat. Er wollte die leeren Sessel im Zimmer nicht sehen, auf denen früher Jewel gesessen und sich mit ihm unterhalten hatte.
Er war bereits in Reithosen und Hemd gekleidet, aber er war noch nicht zur Arbeit bereit. Zuerst mußte er nach seiner Tochter sehen, dann mußte er entscheiden, was mit Jewels Leiche geschehen sollte. Das wiederum würde ihn zu Matthias führen, eine Begegnung, an die er noch nicht denken wollte.
Außerdem mußte er Solanda fragen, wie er Kontakt mit der Schamanin aufnehmen konnte. Je schneller der Austausch vonstatten ging, desto besser für alle.
Das Klopfen an seiner Tür überraschte ihn nicht. Er war heute viel länger hier geblieben als vorgesehen. Daß es sich so nachdrücklich anhörte, machte ihn allerdings stutzig.
»Sire?« fragte sein Kammerdiener. »Verzeiht, Sire, aber einer der Ratsherren will Euch sprechen, er sagt, es sei dringend.«
Zur Zeit war alles dringend. »Das kann warten, bis ich die Versammlung eröffne.«
»Nein, Sire, ich muß sofort mit Euch reden.« Es war Lord Stowes Stimme. Nicholas seufzte. Sofort. Alles mußte sofort geschehen. Vielleicht würde er irgendwann wieder mehr Zeit haben. Zeit, um etwas aufzuschieben.
»Stowe, ich habe noch andere Angelegenheiten …«
»Diese Sache hier ist wichtiger«, sagte Stowe. »Sie betrifft Matthias.«
Also bezeichneten auch andere Leute Matthias nicht mehr als Rocaan. Höchst interessant. Nicholas verschlang schnell den Rest seines Frühstücks, wischte sich den Mund mit einem Tuch ab und schob das Tablett beiseite. Er überlegte kurz, nahm dann die Tasse mit Kräutertee und drückte sie gegen die Brust.
»Kommt herein!«
»Sire, ich bin in Begleitung Eures Kammerdieners. Ich setze voraus, daß er Euer volles Vertrauen genießt.«
Dieser Satz alarmierte Nicholas. Er setzte sich kerzengerade auf. Irgend etwas stimmte hier nicht. »So ist es«, sagte er.
Die Tür öffnete sich. Zuerst trat der Kammerdiener ein. Sein ältlicher Körper schien sich unter der Last dieser Zusammenkunft zu krümmen. Normalerweise hielt er sich immer hochaufgerichtet und vermied es, sich einzumischen. Er schlüpfte zur Seite und blieb wie auf dem Sprung neben der Tür stehen, in nächster Nähe von Nicholas’ Schwert.
Nicholas, dem dies nicht entgangen war, nickte dem Kammerdiener zu, der die Begrüßung aber nicht erwiderte.
Jetzt betrat Lord Stowe den Raum. Er wirkte noch erschöpfter als gestern, soweit das überhaupt möglich war. Er trug Reithosen und ein weißes Hemd, dessen Kragen offenstand. Sein Schwert war am Gurt nach vorne geschoben, damit es
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