Fey 06: Die Erben der Macht
mehr für Sebastian tun. Es war nichts mehr von seinem Sohn übrig.
»Wir müssen hier raus«, zischte Nicholas in Inselsprache. Wenn sie nicht schleunigst die Flucht ergriffen, war Sebastian umsonst gestorben. Sie mußten sich beeilen. Noch waren die Fey durch den Tod des Schwarzen Königs verwirrt und verstört, aber sie würden sich rasch wieder erholen. Es waren zu viele, um mit ihnen zu kämpfen. Nicholas’ und Ariannas einzige Chance war die Flucht.
Aber Arianna schien Nicholas nicht zu hören. Sie klagte immer noch um ihren Bruder, scharrte unablässig auf der Stelle, an der er eben noch gelegen hatte.
Auch auf sie hatte es Steinbrocken gehagelt, aber sie schien es gar nicht bemerkt zu haben.
»Arianna!«
Immer noch hielt Nicholas mit einer Hand ihre Mähne gepackt. Er zog daran. Aber Arianna rührte sich nicht von der Stelle. Die Leibwachen des Schwarzen Königs kauerten auf dem Boden und hielten die Hände schützend vor die Gesichter. Was sollte Nicholas tun, wenn sie wieder aufstanden? Würden sie sich daran erinnern, daß Arianna Schwarzes Blut besaß? Würden sie sich auf ihn stürzen?
Er konnte nicht abwarten, bis die Wachen sich wieder erholt hatten. Er legte Arianna eine Hand auf den Rücken und schwang sich hinauf.
Arianna wieherte und bäumte sich auf – eine instinktive Pferdereaktion, die Nicholas freute. Als sie wieder niederging, gab er ihr einen Klaps auf die Hinterhand.
»Wir verschwinden«, befahl er. »Jetzt!«
»Sebastian …«, begann sie.
»Ist tot. Er soll nicht umsonst gestorben sein. Los!«
Sie gehorchte. Vor der Tür blieb sie kurz stehen und trat sie mit den Vorderhufen auf. Im Korridor wimmelte es von Fey, die dem davonjagenden Pferd verblüfft hinterhersahen. Ein paar von ihnen riefen ihnen etwas nach, aber niemand nahm ihre Verfolgung auf.
Überraschung. Überraschung verfehlte ihre Wirkung nie. Aber sie mußten sich beeilen. Sobald die Fey wieder zur Besinnung kamen, schwebten sie beide in Lebensgefahr.
Arianna galoppierte mit donnernden Hufen durch den Großen Empfangssaal, an einer blutüberströmten Gruppe von Fey vorbei – Nicholas glaubte einen Aud in ihrer Mitte zu erkennen – und durch den Haupteingang ins Freie.
Der Gestank im Hof war überwältigend. Aus der Nähe sahen die Leichen noch schlimmer aus. Jemand hatte die Fackeln an den Außenmauern angezündet, aber das war gar nicht nötig. Der Feuerschein der brennenden Stadt warf sein orangefarbenes Licht über die Szenerie.
Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte Nicholas innerhalb eines einzigen Tages alles verloren, was er besessen hatte. Immerhin hatte er diesmal noch seine Tochter. Was aus seinem Fey-Sohn geworden war, ahnte er nicht.
»Wohin jetzt?« fragte Arianna.
Sie setzte die Hufe vorsichtig zwischen die überall herumliegenden Leichenteile.
Nicholas blickte sich um. Feuer im Süden und Westen. Auf dem anderen Ufer des Flusses stand der Tabernakel in Flammen. Die Luft war voller Ruß und Asche, und es war so heiß wie beim höchsten Stand der Mittagssonne.
»Nach Norden«, entschied er.
»Was ist mit Sebastian?« fragte Arianna.
»Er ist gestorben, damit wir leben.« Er würde sie später trösten. Sie konnten sich gegenseitig trösten. Aber noch war die Zeit nicht gekommen. Noch lange nicht.
»Nach Norden«, wiederholte Arianna nachdenklich. Sie schlug den Weg zum Tor ein und schüttelte sich. Beinahe hätte Nicholas ihre Mähne losgelassen. Sie holte tief Luft, und dann befahl sie: »Halt dich fest, Papa.«
Nicholas gehorchte, und sie preschte los. Nicholas lehnte sich vor, schlang die Arme um ihren Hals und preßte seine Wange an ihren Kopf. Sie war alles, was ihm geblieben war. Seinen Sohn, seinen Palast und seine Stadt hatte er verloren. Und seine Herrscherwürde vermutlich auch. Aber das spielte keine Rolle mehr. Nur Arianna spielte noch eine Rolle. Und wenn es sein mußte, würde er sein Leben für sie aufs Spiel setzen.
Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Noch war ihnen kein Fey auf den Fersen. Aber sie würden nur zu bald nach ihnen suchen. Sie würden sie suchen und Vergeltung üben.
Sie würden suchen, und wenn Nicholas nicht sehr vorsichtig war, würden sie auch finden, was sie suchten.
Nicholas würde vorsichtig sein.
48
Con schwang sein Schwert wie ein Wahnsinniger. Und jedesmal, wenn die Waffe auf Widerstand traf, schnitt sie etwas mittendurch. Hände, Finger, Arme übersäten den Boden zu seinen Füßen. Er mochte schon nicht mehr
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