Fey 06: Die Erben der Macht
früh Verwandeln können; sie wird auch Visionen haben. Sie ist die Tochter einer Visionärin.«
»Ihr Bruder hatte schon mit drei Jahren Visionen.«
»Aber ihr Bruder hat nur dieses eine Talent. Sie hat zwei verschiedene.«
»Das ist noch nicht erwiesen«, erwiderte Rugad. Er wußte nicht genau, ob er an dieses Mädchen, dieses fast zu mächtige Kind glauben wollte, in dessen Adern sein Blut floß.
»Dasselbe hast du damals von Jewel gesagt«, entgegnete Solanda. »Als du sie mit Rugar wegschicktest, hatte sie noch keine Visionen gehabt. Und du dachtest, sie würde auch keine mehr bekommen. Sie war damals achtzehn. Drei Jahre älter als Arianna. Du hast dich getäuscht.«
Rugad ließ die Arme sinken. Er hatte sich getäuscht und damit den größten Fehler seines Lebens begangen. Das einzige Mal, daß Rugar die Oberhand behalten hatte. Rugar hatte Jewel, die Zukunft der Fey, mit sich genommen, um seinen eigenen Vater daran zu hindern, daß er sich gegen ihn wandte.
Aber der Versuch war fehlgeschlagen. Jewel hatte Rugar nicht geholfen, die Insel zu erobern, zumindest nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, und Rugad war in Nye geblieben, hatte alles aus der Ferne beobachtet, in der Hoffnung, seine Enkelin würde sie alle retten. Als Jewel jedoch starb, ohne diese Hoffnung erfüllt zu haben, hatte sich Rugad seinen Enkeln zugewandt, in der Hoffnung, aus dem enttäuschenden Bridge und seinen Brüdern könnte vielleicht doch noch etwas werden. Aber ihre Visionen waren armselig, ihre Intelligenz noch kümmerlicher. Daran konnte auch Rugad nichts ändern. Er konnte aus ihnen keine großen Anführer machen.
Nur die Vision hinsichtlich seines Urenkels hatte ihn aufrechtgehalten.
Sein Urenkel hatte ihn hierhergeführt. Solanda hatte sich nicht geirrt. In seinem ganzen Leben hatte er immer in die Zukunft geblickt, und solange er keinen Nachfolger hatte, sah diese Zukunft trübe aus.
»Ich habe recht, nicht wahr?« fragte Solanda.
Rugad ließ die Lampe los, aber er sah sie nicht an. Er brachte es nicht fertig. Noch nicht.
»Du hast gesagt, auf der Insel gibt es wilde Zauberkräfte. Vielleicht wird das Mädchen niemals Visionen haben.«
»Schon möglich«, sagte Solanda. »Aber ich glaube, das spielt keine Rolle.«
Endlich wandte Rugad sich um. Im Zelt war es heiß geworden. Es würde nicht damit gerechnet, den Eingang länger als nötig verschlossen zu halten. Solanda stand immer noch, die Hände in die Hüften gestemmt, in der Pose einer Rednerin vor ihm.
»Du hast zwei Urenkel, einen Visionär und eine Wandlerin. Überlege doch einmal, wie es wäre, wenn sie sich die Macht teilten.«
»Die Macht kann nicht geteilt werden«, erwiderte Rugad. »Auf dem Schwarzen Thron ist nur Platz für einen.«
Solanda schüttelte den Kopf. »Das kannst du doch nicht wissen. Noch niemals gab es in einer Schwarzen Familie zwei würdige Nachfolger zugleich.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Rugad. »In Ycyno kam die Schwarze Königin an die Macht, weil sie die Älteste war. Als sie kinderlos starb, stieg ihr Bruder auf den Thron. Es gibt noch mehr ähnliche Beispiele, aber niemals wurde der Thron geteilt.«
Solanda lächelte. »Wenn es zwei würdige Nachfolger gibt, laß es sie doch ausfechten.«
»Ich mag es nicht, wenn du lächelst, Solanda.«
Sie zuckte die Achseln. »Gabe wurde von Versagern erzogen. Er ist kein Gegner für Arianna.«
»Sie dürfen nicht gegeneinander kämpfen. Das weißt du genau.«
»Ebensowenig, wie du deinen wertlosen Sohn töten durftest«, erwiderte Solanda.
Rugad holte tief Luft. Der Scharfsinn dieser Frau löste tiefes Unbehagen in ihm aus. Es geschah nur selten, daß er jemanden traf, der sich an Intelligenz mit ihm messen konnte. Ein solcher Zweikampf war nicht nach seinem Geschmack.
»Dein Zögling wurde auch von einem Versager großgezogen«, sagte er. »Und sie hat unter Feinden gelebt.«
»Ich bin eine Kriegerin, Rugad, keine Versagerin«, entgegnete Solanda. »Arianna weiß mehr über die Fey als ihr Bruder. Sie ist die wahre Kriegerin. Nicht er. Sie wird tun, was ich ihr sage.«
»Wirklich?« fragte Rugad. Er hob die Lampe etwas näher heran und stellte sie zwischen sich und Solanda auf den Boden. »Warum bist du dann ohne sie ins Schattenland gekommen?«
Solandas Blick huschte unruhig zur Seite, bevor sie ihn erneut ansah. Die Bewegung war so unauffällig, daß die meisten sie nicht bemerkt hätten. Aber Rugad war sie nicht entgangen. Er wußte jetzt alles, was er wissen
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