Fey 06: Die Erben der Macht
ausspielte.
Er klopfte Sebastian auf die Schulter, drehte sich um, ging zur Tür und öffnete sie. Fünf Wachen standen mit verschränkten Armen davor, Nicholas’ handverlesene Leibwächter, Männer, die er persönlich kannte. Dennoch musterte er jetzt aufmerksam ihre Augen, bevor er das Wort an sie richtete. Jewel hatte ihm beigebracht, daß Fey-Doppelgänger, die den Körper eines Opfers übernommen hatten, nur an den Goldflecken in ihren Augen zu erkennen waren.
Diese Wachen waren in Ordnung. Kein Fey hatte bis jetzt die Stufen zum Gemach des Bauernaufstandes erklommen.
Noch nicht.
Alle fünf blickten ihn erwartungsvoll an. Es waren junge, muskulöse Männer, alle Anfang zwanzig. Er hatte sie ausgewählt, weil sie sich im Schwert- und Nahkampf hervorgetan hatten.
»Trey«, sagte Nicholas zu dem Blonden, der links neben ihm stand. »Such Monte. Bring ihn zu mir. So schnell wie möglich.«
Trey nickte und hastete die Stufen hinunter. Nicholas wartete, bis er im Palast verschwunden war, und schloß dann die Tür. Sie wußten beide, wo sich Monte befand. Er war im Erdgeschoß und überprüfte, ob alle Türen und Fenster verschlossen waren. Er war der einzige von Nicholas’ engen Beratern, der sich bei der Ankunft der Fey im Palast aufgehalten hatte. Soweit Nicholas die Ereignisse rekonstruieren konnte, mußten die Fey alle gleichzeitig in einem gewaltigen Schwarm, der den Morgenhimmel verdunkelt hatte, angekommen sein. Das Küchenpersonal hatte sie bemerkt und es sonderbar gefunden, daß so viele Vögel auf einmal sich dem Palast näherten. Daß es sich um Fey handelte, hatten sie leider erst festgestellt, als es bereits zu spät war.
Noch immer stand Sebastian steif und unwirklich in der Mitte des Zimmers. Er besaß die unheimliche Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen, und schien sich jetzt in einen Teil der steinernen Wand verwandelt zu haben. Diese Begabung hatte er schon als Säugling gehabt, und sie hatte ihn und Arianna all die Jahre vor dem Zorn ihres Großvaters beschützt.
Nicholas legte den Arm um Sebastian und führte ihn zu einem Stuhl. Langsam schüttelte Sebastian den Kopf. »Will … Ari … sehen … wenn … sie … kommt.«
»Sie wird zu mir kommen«, sagte Nicholas. »Du wirst sie wiedersehen.«
»Wünschte … sie … wäre … hier«, antwortete Sebastian.
»Ich auch«, entgegnete Nicholas. Zufrieden stellte er fest, daß der Stuhl, auf den er Sebastian half, vor einer der Säulen stand. Daneben wirkte Sebastian wie ein Relief.
Durch die Fenster schien Sonnenlicht auf die Stickerei der Polsterstühle. An diesen Fenstern gab es keine Wandteppiche. Sie waren immer geöffnet, ebenso wie die Fenster im Ost- und Westturm, aber von hier aus konnte man die Stadt am besten überblicken. Die beiden anderen Türme verstellten sich gegenseitig die Sicht. Da es keinen Südturm gab, existierte dieses Problem im Nordturm nicht.
Der Rauch wurde immer undurchdringlicher. Nicholas konnte nur hoffen, daß Arianna nicht hineingeraten war.
Hoffentlich war sie noch am Leben.
Was sollte er nur ohne sie tun?
Nicholas schloß die Augen. Er hatte schon einmal dasselbe über Jewel gedacht. Und doch hatte er ohne sie weitergelebt. Von einem Tag zum nächsten. Jeden Morgen hatte er es irgendwie fertiggebracht, aufzustehen und dem Tag ins Gesicht zu sehen. Mit der Zeit wurde das Aufstehen einfacher. Aber er hatte nie aufgehört, an sie zu denken. Auch jetzt, ganz besonders jetzt, war er in Gedanken bei ihr.
Er hätte den Angriff auf den Tabernakel vorhersehen müssen. Jewel hatte ihn gewarnt. Einmal hatte er Jewel gefragt, was sie getan hätte, wenn sie bereits vor dem Angriff über das Weihwasser Bescheid gewußt hätte, statt erst zu spät davon zu erfahren.
Ich hätte alle Schwarzkittel umgebracht, war ihre Antwort gewesen.
Offenbar dachte ihr Großvater ebenso.
Und Nicholas mußte auch so denken. Er mußte versuchen, genauso zu denken wie der Schwarze König.
Was hatte Jewel ihm erzählt? Mehr als einmal hatte sie mit ihm über Strategie gesprochen. Ihr war aufgefallen, daß es ihm auf diesem Gebiet an Kenntnissen mangelte. Ein Soldat ist mehr als nur ein guter Schwertkämpfer, hatte sie gesagt. Strategie ist das Wichtigste. Ein guter Stratege versteht es, die Erwartungen seines Gegners in Vorteile für sich selbst zu verwandeln.
Was mochte der Schwarze König erwarten?
Er nahm bestimmt an, daß Nicholas geduldig auf ein Treffen wartete.
Oder daß Nicholas einen Fluchtversuch
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