Fey 10: Das Seelenglas
keine große Streitmacht mit sich führte, hoffte er auf einen kurzen Kampf, aber darauf konnte er sich nicht verlassen.
Soeben hatte ihm ein Spatzenreiter über die Lage in Constantia Bericht erstattet. Die Inselbewohner waren, wie geplant und erwartet, besiegt. Hier und dort gab es noch Widerstandsnester, aber der aus Licias ursprünglichem Plan entwickelte Angriff hatte besser als erhofft funktioniert. Die dummen Inselbewohner waren völlig überrascht worden. Während ihre sogenannte Armee auf dem Feld gegen die Infanterie kämpfte, starben die übrigen Inselbewohner in ihrer eigenen Stadt. Selbst wenn die Armee überlebte, blieb ihr nichts mehr zu verteidigen.
Jetzt gehörte die Insel Rugad – mit Ausnahme des Ortes der Macht, den Nicholas noch besetzt hielt.
Rugad kratzte an seinen Narben. An diesem Ort wehten mächtige magische Kräfte, sogar so weit hier unten. Sie reizten die Wunden, die ihm dieser Golem zugefügt hatte. Sobald er zurück war, mußte er sich abermals in Behandlung geben, was ihn schon jetzt mit Widerwillen erfüllte. Er hoffte nur, daß das Jucken nicht noch schlimmer wurde.
Kendrad hielt sich ein Stück weiter oben auf und überwachte den Treck, der sich auf den Ort der Macht zubewegte. Rugad hatte ihr das Kommando über die Truppen überlassen. Wenn sie einen seiner Urenkel töteten, dann sollte es wenigstens nicht unter seinem Befehl geschehen sein. Ob das eine Rolle spielte, wußte er nicht. Da der Angriff auf seine Initiative erfolgte, spielte es wahrscheinlich keine Rolle.
Andererseits konnte es genau den entscheidenden Unterschied ausmachen.
Sein Blick wanderte über seine Falkenreiter. Sie hatten ihre Fey-Gestalt angenommen und trugen keine Kleider. Nur das lange, gefiederte Haar bedeckte ihre nackten Körper. Sie gingen wartend in der Nähe des Tragestuhls auf und ab. Sobald die Zeit gekommen war, würden sie ihn nach oben tragen. Rugads Falkenreiter waren die besten Kämpfer unter den Vogelreitern, weshalb er sie möglichst weit unten behielt, wo sie geschützt waren. Sie konnten seine Maßnahme nicht ganz verstehen.
Das mußten sie auch nicht. Es war seine Schlacht, und er kannte die Risiken. Sobald seine Soldaten auf den Felsen unterhalb des Ortes der Macht in Stellung gegangen waren und die Tierreiter die darüberliegenden Wege überwachten, würde er den Befehl zum Angriff geben. Nicholas konnte sich gegen eine solche Armee nicht zur Wehr setzen, wie schlau er es auch anstellte. Und selbst dann hatte Rugad noch einen Trumpf im Ärmel.
Er hatte sich etwas überlegt, womit er die Macht der Inselbewohner zu seinen Zwecken nutzen konnte.
Er würde selbst mit den Falkenreitern herabstoßen und sich aller Magie bedienen, die ihm der Ort der Macht zur Verfügung stellte. Er würde mit einem einzigen Streich Nicholas loswerden, den Ort der Macht erobern und die Kontrolle über seine Urenkel übernehmen.
Wenn alles genau nach Plan verlief.
Was er nicht unbedingt erwartete – schließlich befanden sie sich immer noch auf der Blauen Insel –, aber auch dann, wenn es nur zum Teil klappte, würde er den Sieg immer noch in Händen halten. Nicholas war nun nichts mehr geblieben, obwohl er das vielleicht nicht einmal wußte. Nichts, bis auf den Ort der Macht selbst, und um diese Macht zu nutzen, bedurfte es der Erfahrung mehrerer Generationen.
Nicht einmal Rugad kannte alle seine Geheimnisse. Die Schamanen hatten den Ort der Macht der Fey zu gut behütet. Bei diesem hier würde er eine Schamanin nicht einmal in die Nähe lassen. Diesmal würde er alles selbst machen.
Schatten fielen über sein Lager. Er blickte auf. Einige der Vogelreiter kehrten von der Schlacht um Constantia zurück. Ihre Schnäbel und ihre kleinen Füße waren blutig, aber sie sahen siegreich aus.
Offensichtlich wurden sie dort nicht mehr gebraucht. Sie suchten nach frischem Blut, und er würde ihnen frisches Blut geben.
Er nickte ihnen grüßend zu. Im Laufe des Tages würden sich ihm weitere Kämpfer aus Constantia anschließen.
Sein Blick wanderte zum Berghang. Er schien vor Fey zu wimmeln. Kein General hatte sich jemals einer solchen Streitmacht gegenübergesehen. Rugad bezweifelte, daß einer der feindlichen Kämpfer eine Schlacht wie diese überleben würde. Die Übermacht war auf seiner Seite. Aber er wußte, daß er sich nicht darauf verlassen durfte. Auf der Blauen Insel konnte man durch Übermacht allein nichts gewinnen.
Während er seinen Leuten dabei zusah, wie sie den Berg erklommen, rief er
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