Fey 10: Das Seelenglas
er durfte seine Kinder immer noch nicht aus ihrem Versteck holen, durfte sie nicht vortreten lassen, solange Matthias hier war.
Matthias’ Gesicht beruhigte sich. Der Schock, die Verwunderung und der Glanz, die es soeben noch erfüllt hatten, verschwanden. »Ich glaube, wir haben noch etwas zu bereden.«
Er schwankte ein wenig, streckte aber nicht die Hand um Hilfe aus. Nicholas bot ihm auch keine Hilfe an.
Auch er erhob sich. Seine Gefühle Matthias gegenüber hatten sich verändert. Er war nicht willens, die alten Gefühle wiederzuerwecken, es widerstrebte ihm, in diesen Augenblick einzugreifen. Sie hatten zusammengearbeitet, und gemeinsam hatten sie die Insel gerettet.
Nicholas konnte diesen Mann nicht töten, wobei er es nicht einmal mehr wollte, weil sie gemeinsamen Blutes waren. Die Kraft reiste über das Blut. Diese Verbindung anzurühren bedeutete, an etwas herumzupfuschen, das Nicholas noch längst nicht völlig begriffen hatte. Aber er verstand es jetzt immerhin etwas besser.
»Jewel«, sagte er leise, hörte die Trauer in seiner Stimme und wußte mit einem Mal, daß er diese Qual noch einmal durchmachen mußte. Er hatte seine Frau verloren, hatte die gleiche Frau zweimal an den gleichen Mann verloren, an den Mann, mit dem er sich hatte zusammentun müssen, wenn er überleben wollte.
»Sie ist hier«, sagte Matthias. »Sie ist nicht tot … falls man so etwas wie sie überhaupt töten kann. Wenn du mich gehen läßt, sage ich dir, wie du sie befreien kannst.«
»Gehen?« wiederholte Nicholas. Sein Verstand war nicht ganz auf der Höhe. Er kam sich vor, als sei er aus einem tiefen Schlaf erwacht.
»Nicholas, ich möchte mein Leben gegen das ihre tauschen. Ich weiß, das ist nicht sehr moralisch, und ich weiß auch, daß du mir nichts schuldig bist, aber …«
»Nein.« Nicholas tat den Vorschlag mit einer Bewegung seiner rechten, der kleineren Hand ab. »Ich bin dir nichts schuldig. Ich glaube, wir sind nicht einmal annähernd quitt. Aber wenn meine Frau wieder zu mir kann, lasse ich dich gehen.«
Matthias’ Augen füllten sich mit Tränen. Er blinzelte, um sie zurückzuhalten. »Du bist ein weit edelmütigerer Mensch, als ich es für mich jemals erhoffen kann«, flüsterte er.
Nicholas erwiderte nichts. Er war kein edelmütiger Mensch. Er hatte lediglich genug von all dem Blutvergießen und den ewigen Auseinandersetzungen. Er hatte genug vom Töten. Und seine Zeit war begrenzt. Er mußte seine Kinder nach draußen bringen, damit sie den Fey entgegentraten und sie wissen ließen, daß die Erben des Schwarzen Throns bereit waren, das Imperium zu übernehmen.
»Jewel«, sagte Nicholas wieder.
»Sie ist in einem Glasfigürchen gefangen«, sagte Matthias. »Ich habe es bei den leeren Regalen neben den Wandbehängen abgestellt. Um es zu öffnen …«
»Ich weiß, wie man es öffnet«, sagte Nicholas. Gefangen. Matthias war es gelungen, sie so gefangenzusetzen, wie einst dieser merkwürdige Mann in der Falle gesessen hatte. Aber wenn er es nicht getan hätte, wäre es ihnen nie gelungen, den Schwarzen König zu besiegen.
Gemeinsam.
Er ist euer Gott, hatte die Schamanin gesagt. Aber sie hatte sich geirrt. Matthias war nicht Gott, ebensowenig wie Nicholas selbst. Er war der Roca dieser Generation. Und gemeinsam hatten sie die Macht des Roca benutzt, eine Macht, die ihnen einzeln nicht zur Verfügung gestanden hätte.
Eine Macht, die den Schwarzen König besiegt hatte.
»Geh«, sagte Nicholas. »Geh durch die Tunnel. Du mußt schnell gehen. Sie hat dich erst bemerkt, als du ganz nah warst.«
»Ich weiß, wo das war«, nickte Matthias. »Ich werde eine Zeitlang brauchen, bis ich die Stelle erreicht habe.«
»Die Fey bestimmen, wieviel Zeit du hast.«
»Was hast du vor?«
»Mich ihnen stellen«, sagte Nicholas. »Ohne dich.«
Ohne einen Blick auf Coulter oder den Torkreis neben ihm zu werfen, ging Matthias die Treppe hinunter. Auf halbem Weg blieb er stehen.
»Und wenn wir uns noch einmal begegnen?« fragte er. »Was dann?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Nicholas.
Matthias nickte kurz und ging dann mit gebeugtem Kopf weiter. Er war nicht mehr der arrogante Rocaan, der Jewel ermordet hatte. Jener Mann hatte auf niemanden gehört, und es hatte den Anschein gehabt, als würde er auch nie auf jemanden hören. Dieser hier war milder geworden, wenn auch nur ein bißchen. Nicht genug, daß man ihm vertrauen konnte – Nicholas wollte ihn nie wieder in der Nähe seiner Familie haben –, aber
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