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Fiasko

Fiasko

Titel: Fiasko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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besichtigen — alle Räume waren zugänglich, man hatte ihm versieben, daß er selbstverständlich nach Belieben umhergehen und fragen konnte —, aber er bevorzugte für seine Streifzüge die Nacht.
       Nach dem Morgentraining im Turnsaal ging er, körperlich fit, in die Schule. Er selbst nannte das so, wenn er sich vor den Memnor setzte, um im Spiel von Bildern und Worten, die Assoziationen weckten, das Gedächtnis wiederzuerlangen, zugleich aber zu lernen, was ihm so fremd war. Er fühlte sich nicht konsterniert vor der Maschine, die unendlich geduldig und unfähig war, Gefühle zu zeigen, sich zu wundern oder überheblich zu sein. Wenn er etwas nicht begriff, nahm Memnor seine Zuflucht zu figürlichen Darstellungen und einfachen Schemata, griff auf die Speicher anderer Maschinen des Raumschiffs zurück, um didaktische Programme einzusetzen. Die Holothek besaß in ihrem Archivteil Tausende Filme, die jedoch in keiner Weise an die einst aufgenommenen erinnerten, denn jedes abgerufene Bild wurde wirkliche Umgebung, jedes Wort wurde Fleisch, alles freilich nur zeitweilig und vergänglich. Wenn er wollte, konnte er das Innere der Pyramiden besichtigen, gotische Dome, die Schlösser an der Loire, die Monde des Mars, Städte und Wälder, aber er tat dies nur in dem Wissen, daß auch diese Phantome einen wichtigen Teil der Therapie bildeten. Die Ärzte waren bemüht, ihn als Besatzungsmitglied, nicht aber als Patienten zu behandeln, und er hatte sogar den Eindruck, daß sie ihm ein wenig aus dem Weg gingen, als wollten sie unterstreichen, daß er sich in nichts von den anderen unterschied.
       Das visuelle Gedächtnis war ihm zurückgekehrt — und damit die Lebenserfahrung, das Spezialgebiet des Navigators und Kenners der Großschreiter. Zwar hatten sich die Raumschiffe nicht weniger gewandelt als die Planetarmaschinen, und er befand sich ein wenig in der Lage eines Matrosen, der aus der Zeit der Segelschiffe in die der Ozeanriesen versetzt wurde, aber diese Lücken waren nicht schwer zu füllen. Die veralteten Kenntnisse ersetzte er durch neue. Immer schmerzlicher aber wurde er sich der schlimmsten und vielleicht unwiederbringlichen Einbuße bewußt: Er konnte sich keiner Vor- oder Nachnamen erinnern, einschließlich der eigenen. Und was noch merkwürdiger war, sein Gedächtnis kam ihm vor wie zweigeteilt. Was er einst erlebt hatte, kehrte verblaßt zurück, wenn auch genau in den Details, wie die kleinen Habseligkeiten eines Kindes, die man beim Aufräumen im Elternhaus nach Jahren wiederfindet, nicht nur die Erinnerung an ihr Aussehen, sondern auch eine emotio-nelle Aura wachrufen.
       Einmal, im Labor der Physiker, stieg ihm aus einem Destilliergerät der bitterliche Geruch einer verdampfenden Flüssigkeit in die Nase und machte ihm sofort etwas gegenwärtig, was mehr war als ein Bild: der nächtliche Aufenthalt auf einem zufälligen, beleuchteten Landeplatz, wo er unter den noch glühenden Trichtern der Düsen, unter dem Boden seiner geretteten Rakete gestanden, ebendiesen Nitroqualm gerochen und ein Glücksgefühl verspürt hatte, von dem er damals nichts gewußt hatte, das er aber jetzt in der Erinnerung verstand. Er erzählte Doktor Gerbert nichts davon, obgleich er sich mit jeder überraschenden Reminiszenz unverzüglich bei ihm melden sollte, da sie so etwas sei wie ein verschütteter Ort des Gedächtnisses, wo man nachgraben müsse, um ihn aufzuschließen und so immer vollkommener zu sich selbst zu finden, also nicht um der Psychotherapie willen, sondern um die verwischten Bahnen im Gehirn aufzuspüren. Der Ratschlag war vernünftig und sachkundig, auch er hielt sich für jemanden, der vernünftig dachte, ging aber dennoch nicht zu dem Arzt. Unstreitig gehörte die Schweigsamkeit zu seinen grundlegenden Charaktereigenschaften. Nie war er geneigt, jemandem sein Herz auszuschütten — schon gar nicht in so privaten Angelegenheiten. Außerdem sagte er sich, daß er die Erinnerung, wer er sei, nicht durch den Geruchssinn erschnüffeln könne wie ein Hund. Er verwarf diesen Gedanken sogleich wieder als dumm, es fiel ihm gar nicht ein, sich über die Ärzte zu erheben. Dennoch blieb er bei seinem Entschluß. Gerbert kam schnell hinter seine Zurückhaltung. Er gab ihm sein Wort, daß seine Gespräche mit dem Memnor nicht aufgezeichnet würden und er selbst, falls er wolle, ihren Inhalt aus dem Gedächtnis des Pädagogen löschen könne, Das tat er auch. Vor der Maschine hatte er keine Geheimnisse. Sie

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