Fida (German Edition)
woran er sich noch erinnern kann. Von dem Gespräch zwischen den Mädchen, von dem er damals auch schon den ermittelnden Beamten erzählt hatte. Versucht Worte dafür zu finden, wie betroffen ihn diese Sache macht und betont, wie oft er an Laura denken musste.
„Wissen sie, kurz bevor ihre Tochter verschwand, hat mir meine Freundin gesagt, dass sie ein Kind von mir erwartet. Als ich ihre Tochter bei uns im Laden sah, so ein entzückendes Kind, dachte ich, vielleicht wäre es gar nicht so schrecklich, Vater zu werden. Als ich dann in der Zeitung las, dass sie nicht mehr nach Hause kam… Seit ein paar Monaten habe ich nun selbst eine kleine Tochter. Vielleicht ging mir das Verschwinden ihrer Laura deshalb so nah. Sehen sie, das ist die Kleine.“ Mit diesen Worten schiebt ihr der Filialleiter ein Foto seines Babys über den Schreibtisch.
Tatjana wirft einen kurzen Blick darauf. Der Anblick des Neugeborenen, in Verbindung mit ihrem eigenen Verlust, ist mehr, als sie im Augenblick ertragen kann. Abrupt steht sie auf, dreht ihm den Rücken zu. Sie hasst es, vor wildfremden Menschen in Tränen auszubrechen, kann jedoch nichts dagegen tun, dass sie nun in Sturzbächen über ihre Wangen fließen.
Mit einer energischen Handbewegung wischt sie über ihre Augen. Sie ist es inzwischen gewohnt, ihre Gefühle zu unterdrücken, hat sich schnell wieder im Griff. Gerade als sie sich Herrn Nagel wieder zuwenden möchte, fällt ihr Blick auf etwas, das obenauf in einer Schachtel in dem Regal liegt, vor dem sie im Augenblick steht. Sie streckt ihre Hand aus, greift danach und mustert das Fundstück. Plötzlich wird ihr eiskalt. Mit der filigranen Kette und dem herzförmigen Anhänger in der Hand, dreht sie sich zu Nagel um und hält sie ihm entgegen.
„Woher haben sie das?“, will sie wissen.
„Diese Kette?“, fragt er überrascht. „Eine der Putzfrauen hat sie gefunden. Eine Kundin muss sie beim Einkaufen verloren haben und sie war unter ein Regal gerutscht.“
„Diese Kette gehörte Laura!“ Sie zeigt Nagel das Detail, das sie so sicher macht. „Sehen sie, da am Anhänger, links in der Ecke des Herzchens, da fehlt ein Steinchen. Das brach ihr gleich am ersten Tag raus, nachdem ich es ihr geschenkt hatte. Sie biss im Scherz darauf, um zu prüfen, ob die Diamanten auch echt sind.“
Der Filialleiter mustert prüfend die beschriebene Stelle und stellt fest, dass Tatjana Recht hat.
„Das ist ja ein Ding!“ Die Verblüffung steht Nagel ins Gesicht geschrieben. Dann erhellt ein strahlendes Lächeln sein Gesicht: „Dann freut es mich ganz besonders, dieses Fundstück endlich zurück geben zu dürfen. Ich schätze, es spricht nichts dagegen, wenn Sie die Kette gleich mitnehmen. Die Polizei wird damit wohl nicht viel anfangen können und weiß ja ohnehin schon, dass Laura damals hier war. Es ist bestimmt nur ein schwacher Trost, beim Verlust eines Kindes, aber nun haben Sie wenigstens ein Erinnerungsstück wiederbekommen.“
Tatjana geht nicht in die Luft, wie normalerweise, wenn jemand derart von ihrem Verlust spricht. „Vielleicht ist Laura nicht verloren, sondern nur verlegt“, antwortet sie an besseren Tagen. Diesmal spart sie sich jeglichen Widerspruch und klärt den Filialleiter auch nicht über das Innenleben des Anhängers auf. Zu groß ist ihre Angst, er könnte darauf bestehen, das Fundstück doch der Polizei zu übergeben. Es fällt ihr schwer, angemessene Worte zu finden, um Danke zu sagen, für das Geschenk, das er ihr gerade eben gemacht hat. Sie steht auf, geht um den Schreibtisch herum und nimmt ihn in den Arm, diesen fremden Mann, der ihr etwas gegeben hat, womit niemand mehr wirklich gerechnet hätte: Ein Stück von Laura, das verloren war, aber wiedergefunden wurde.
Dann hat sie es auf einmal furchtbar eilig, sich zu verabschieden.
Beim Hinausgehen achtet sie kaum auf den Weg oder die Menschen, die ihr entgegenkommen. Sie kann kaum fassen, was ihr da gerade passiert ist und was sie nun in der Hand hält. Ein Geschenk von Laura. Kein Lebenszeichen, das nicht, aber nach so langer Zeit, in der sie nichts anderes hatte, als die immer schwerer am Leben zu erhaltende Hoffnung, ist dieses Herz fast genauso gut. Sie kann es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um sich dort an ihren Computer zu setzen und zu sehen, was auf dem Chip in seinem Inneren gespeichert ist.
Im Bus fällt es ihr schwer, ruhig sitzen zu bleiben, so ungeduldig ist sie. Tatjana wirft nicht einen Blick aus dem Fenster, sondern starrt das
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