Fida (German Edition)
Mann wieder näher kommen, statt ihn zu verlieren. Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Mit ihrer Veränderung wird sie ein Zeichen setzen. Und wenn er sich nicht bald meldet, dann wird sie eben auch ihn suchen.
Tatjana geht in die Garage, wo sie das Werkzeug aufbewahren, um sich Hammer und Nägel zu holen. Sie lässt den Hammer immer auf der Kommode neben der Tür liegen. Jochen räumt ihn jede Woche zurück in die Werkzeugkiste, als würde sie ihn nicht bald wieder brauchen. In der Garage kommt ihr der Gedanke, dass sie vielleicht nicht beides haben kann. Ihre Suche und ein Leben mit Jochen. Tatjana ist unsicher, wie sie sich entscheiden wird, sollte Jochen sie tatsächlich vor die Wahl stellen.
Wenig später geht Tatjana ihren üblichen Weg. Hängt das erste Plakat an der Bushaltestelle in ihrer Straße auf, geht am Spielplatz und am Kiosk vorbei, dann an der leerstehenden Fabrik und am verlassenen Haus, mit dem gewohnten Gefühl der inneren Leere. Heute ist ihr nicht danach sich Geschichten dazu auszudenken. Sie bestückt wie gewohnt die Bushaltestelle, steigt in den Bus, fährt an der Bücherei vorbei, in der man sie ihre Plakate nicht aufhängen lässt. Anfangs war das noch kein Problem, doch nach der Sache mit Opa Anton…
Tatjana spürt einen Kloß im Hals, als sie an ihn denkt. Auch mit diesem Teil der Geschichte kann sie nur schwer umgehen.
VERDÄCHTIGER IM FALL LAURA IN UNTERSUCHUNGSHAFT , verkündeten die Zeitungen, wenige Tage nach dem mutmaßlichen Verbrechen. Aufgrund einer Zeugenaussage nahm die Polizei den 53jährigen Frührentner Anton W. in Untersuchungshaft. Die 34jährige Bibliothekarin Adelheid S. konnte am Nachmittag, an dem die dreizehnjährige Laura W. verschwand, beobachten, wie sich der dringend tatverdächtige Mann dem Mädchen näherte. „Laura schien sich vor ihm zu fürchten und rannte weg, als er sie ansprach“, sagte Adelheid S. bei der Polizei aus. Die Ermittlungen dauern im Augenblick noch an.
Natürlich geriet Anton Wacholski nach solch einer Aussage unter Verdacht. Auch wie er sich bei der Vernehmung in seiner eigenen Aussage verstrickte, ließ ihn suspekt erscheinen. Zuerst erzählte er nur, er hätte das Mädchen in der Bücherei gesehen. Doch dann, als er sich in der Schilderung eines anderen Mannes erging, von dem er dachte, er würde das Mädchen beobachten, rutschte ihm ein fataler Satz heraus. Das Bemühen, den Grad seiner Besorgnis zu dramatisieren, den Verdacht auf einen unbekannten Dritten zu lenken, brach ihm im Verhör das Genick:
„Als sie den Bus verpasste, habe ich ihr sogar noch angeboten, sie nach Hause zu bringen, damit ihr nichts passiert. Weil ich diesem Kerl nicht über den Weg traute. Wirklich, ich wollte dem Mädchen doch nichts tun …“
Kaum wurde ihm bewusst, was er da gerade gesagt hatte, verstummte er, doch den Beamten war die Bedeutung seiner Worte nicht entgangen. Die Bücherei war wohl doch nicht der letzte Ort, an dem er Laura gesehen hatte.
Nach seiner Zeugenaussage ließ man Wacholski nicht wieder laufen. Er wurde auf dringenden Verdacht hin direkt in Untersuchungshaft genommen. Seine Nachbarn, seine Familie, sein Arbeitgeber, alle erfuhren, was man Wacholski zur Last legte. Das wusste Tatjana mit Sicherheit, denn sie war dagewesen, als man ihn zum Verhör abgeholt hatte, von dessen Verlauf man ihr später berichtete.
„Wir haben einen Verdächtigen. Den sammeln wir jetzt ein und bringen ihn auf die Wache. Mit ein bisschen Glück haben sie ihre Tochter bald wieder!“, teilten ihr die Beamten mit, die gerade noch ihr eigenes Haus durchwühlt hatten, während sie sich eilig auf den Weg machten. Tatjana zögerte nicht lange und fuhr den Polizisten einfach hinterher. Sie hatte gesehen, wie man ihn aus dem Haus führte, während die Nachbarn neugierig ins Freie kamen, um zu erfahren, warum mehrere Einsatzfahrzeuge in ihrer Straße parkten. Manche verhüllten notdürftig ihre Neugier, indem sie heimlich hinter den Vorhängen hervorlugten. Einen Moment lang blieb Tatjana hinter dem Steuer ihres Wagens sitzen, unschlüssig, was sie tun sollte. Dann kam Wacholski in Sicht und, völlig außer sich vor Angst um ihr Kind, sie stieg aus. Für das, was dann folgte, schämt sie sich noch heute. Den vermeintlichen Täter vor sich zu sehen, auch ohne zu wissen, was genau oder ob er überhaupt etwas getan hatte, löste zu viel in ihr aus. Die Wut und die Angst, die sie seit Tagen so gut es ging in Zaum hielt und kontrollierte, brachen nun
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