Fida (German Edition)
wir es. Hast du verstanden?“ Wiederwillig blinzelte Wolfgang ein Mal. Tom würde sowieso nicht gehen, bevor er nicht seinen Willen bekommen hatte.
„Na also, es geht doch!“, nickte Tom zufrieden. Kümmert man sich hier gut um dich?“ Ein Blinzeln. „Auf dem Gang kam mir eine rattenscharfe Pflegerin entgegen. Wünscht man sich da nicht, noch mal jung zu sein, um es der Kleinen richtig zu besorgen?“
Der einzige Wunsch, den Wolfgang in letzter Zeit hatte, war der, bald zu sterben. Er hasste dieses hilflose Dasein. Sein Verstand war noch intakt, doch man musste ihn füttern, waschen und wickeln wie ein Kleinkind. Bis auf den Ringfinger und den kleinen Finger seiner rechten Hand, konnte er keines seiner Gliedmaßen bewegen. Sein Sprachvermögen war komplett abhandengekommen. Denken konnte er noch, doch sein Mund weigerte sich, seine Gedanken in Worte umzusetzen. Er konnte nicht mal um ein Glas Wasser bitten, wenn ihn der Durst plagte. Seit drei Jahren vegetierte er so dahin. Eine Besserung seines Zustands war nach so langer Zeit nicht mehr zu erwarten. Also blinzelte er zweimal.
„Ich weiß nun endlich, was ich mit dem Haus mache“, fuhr Tom in lockerem Plauderton fort. „In den letzten Wochen habe ich ein wenig umgebaut. Du wärst erstaunt, könntest du sehen, was ich aus dem alten Kasten gemacht habe.“
Wolfgang war klar, dass er nie wieder in dieses Haus zurückkehren würde, in dem er mehr als die Hälfte seines Lebens verbracht hatte. Kurz nach seinem ersten Schlaganfall hatte er es an seine Frau überschrieben. Erst nach ihrem Tod, von dem er nicht gedacht hätte, dass er ihn erleben würde, sollte es an ihren gemeinsamen Sohn fallen. Seinen zweiten Schlaganfall, der ihn zum hilflosen Pflegefall machte, hatte er ein paar Monate nach seinem ersten. Seitdem rechnete Wolfgang täglich mit dem Tod, diesem elenden Mistkerl, der ihn einfach nicht holen wollte.
„Erinnerst du dich eigentlich noch an den Keller? Als Kind hast du mich dort unten oft eingesperrt…“
Natürlich erinnerte Wolfgang sich.
Tom war – ein wilder Junge. So wild, dass es manchmal nicht ausblieb, ihn zu bestrafen. Seiner Frau und auch ihm hatten harte Strafen immer wiederstrebt. Mit Liebe und Verständnis wollten sie ihren Jungen großziehen, hatten sich immer bemüht, ihm gute Eltern zu sein. Nur ungern hatte Wolfgang die Hand erhoben. Doch der Junge, manchmal machte er Dinge, die man ihm nicht einfach durchgehen lassen konnte. Wie oft hatten sich die Eltern geschlagener Kinder bei ihm beschwert, oder seine überforderten Lehrer, die Toms Verhalten ebenso wenig in den Griff bekamen wie er und seine Elisabeth?
„… Ich erinnere mich sogar gern daran. Mir hat es dort unten immer ganz gut gefallen. Wusstest du das eigentlich? Darum habe ich mir den Keller, jetzt wo er mir gehört, ein wenig ausgebaut. Ist wirklich toll geworden. Naja, bis auf eine Kleinigkeit. Blöderweise habe ich eine Leitung angebohrt, als ich ein paar Haken in der Decke verankern wollte. Hat den Strom im ganzen Haus lahmgelegt. Ich würde ja einen Elektriker rufen, der es wieder repariert, glaube aber, das wäre nicht so gut. Er könnte meinen kleinen Hobbyraum entdecken, nicht wahr? Aber das ist nicht so schlimm. Ich habe einfach einen Generator gekauft. Damit kann ich das bisschen Strom, das ich brauche, selbst produzieren. Ist vielleicht sogar praktisch. Wenn oben niemals Licht brennt, wirkt es noch mehr, als würde sich dort niemand mehr aufhalten. Außerdem habe ich die Fenster mit Latten vernagelt, um den Eindruck abzurunden. Mutters Blumenbeete habe ich den ganzen Sommer über nicht gegossen. Und weißt du, was am Schlimmsten ist? Ich mähe samstags nicht mal den Rasen!“
Dumpfes Grauen machte sich in Wolfgang breit. Er ahnte, dass er überhaupt nicht wissen wollte, wozu Thomas diesen Aufwand betrieb und was er in seinem Keller trieb. Er wollte es nie wahrhaben, aber der Junge hatte eine furchterregende, dunkle Seite, etwas Böses, tief im Kern.
„Erinnerst du dich auch daran, dass ich als Kind immer einen Hund wollte? Du hast mir nie einen geschenkt, so sehr ich auch darum gebettelt habe. Warum eigentlich nicht?“
Wolfgang dachte daran, wie er den Jungen dabei erwischt hatte, als er die Katze des Nachbarn quälte. Davor war es noch einfacher, die Augen zu verschließen und den Tod mancher Haustiere auf ein Versehen oder einen unabsichtlich begangenen Fehler zu schieben. Doch einen Hund anzuschaffen… Nein, das war keine gute Idee!
Thomas
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