Fida (German Edition)
ging eine undefinierbare Aufregung, eine schleichende Angst, damit einher, die Tür zum Keller zu öffnen. Zu einem schwarzen Loch, das sich vor ihr auftat, in dem etwas unbekannt Böses lauern konnte. Dann fand ihre Hand den Lichtschalter an der Wand und die Angst wich, gemeinsam mit der Dunkelheit. Nun sucht ihre Hand die Fernbedienung des Fernsehers. Es ist viel zu still hier. Nur die leisen Geräusche des Hauses, mal ein Knacken im Holz oder der Heizung, unterbrechen die Stille. Es sind Geräusche, die sie kennt und normalerweise automatisch zuordnet, ohne sie wirklich zu registrieren, doch heute zerren sie an ihren blankliegenden Nerven. Sie wirken bedrohlich und fremd, lassen sie erschreckt zusammenzucken.
Natürlich war sie schon oft allein zu Hause. Tagsüber, während Laura in der Schule und Jochen bei der Arbeit war, doch nur selten nachts. Und niemals so lange. Sonst hatte ein Blick auf die Uhr genügt, um zu wissen, wie lange es noch dauern würde, bis die Haustür sich öffnet und ihr Mann nach Hause kommt. Tatjana sagt sich, dass es albern ist, sich nun vor jedem Geräusch zu fürchten. Irrational und dumm, schließlich ist sie hier zu Hause und fühlte sich sonst doch auch nie so unsicher. Trotzdem ist sie froh, als der Fernseher anspringt und die unnatürlich Stille sowie die leisen Geräusche übertönt. Sie dreht den Ton noch ein bisschen lauter, dann steht sie auf und geht in die Küche. Dort entkorkt sie eine Flasche Rotwein, verschwendet keine Zeit damit, ihn atmen zu lassen, und schenkt sich ein Glas davon ein.
Zurück auf dem Sofa zappt Tatjana durch die Programme. Überall läuft nur Mist. Sie nippt an ihrem Wein, sucht weiter. Irgendwo auf einem der hinteren Kanäle bleibt sie an einem alten Film hängen. Die Körperfresser kommen . Nicht die wenig berauschende Neuverfilmung, sondern die Fassung von 1978, die sie schon als Kind zum ersten Mal sah und die ihr stets eine wohlige Gänsehaut verursacht. Doch schon nach wenigen Minuten schaltet sie wieder weg. Das ist kein Film, den sie allein sehen mag, ohne Jochen, an den sie sich normalerweise kuschelt, wenn die Spannung steigt. Kein Film für einen Abend wie diesen, an dem die Nerven ohnehin schon bis zum Zerreißen gespannt sind.
Einsam fühlt sich Tatjana schon lange. Doch nun fühlt sie sich auch noch allein. Mutterseelenallein und von allen verlassen. Damit kann sie nur schwer umgehen, fragt sich, wie sie das aushalten soll, falls Jochen wirklich nicht zu ihr zurückkommt. Sie sehnt sich in diesem Augenblick so sehr danach, ein bekanntes, vertrautes Gesicht zu sehen, dass sie erstmals darüber nachdenkt, ihren Computer anzumachen und nochmals die Bilder ihrer Tochter zu betrachten. Bislang erschien ihr das als zu schmerzvoll, doch nun hat der Gedanke etwas Tröstliches, also schaltet sie den Fernseher aus und geht in ihr Büro.
Bald lacht ihr Laura vom Bildschirm entgegen. Tatjana blättert langsam durch die Bilder, hin zu den neuesten. Eins starrt sie minutenlang an, denn es suggeriert so viel heile Welt, so viel Normalität – und wenn sie sich vorstellt, diese Szenerie wäre nicht längst vergangen, sondern eine aktuelle Momentaufnahme, dann verliert sich dadurch sogar ein ganz klein wenig das Gefühl des vollkommen Alleinseins. Tatjana gibt sich einen Augenblick lang der Vorstellung hin, Laura säße gerade mit ihren Freundinnen im Kino, vor dessen Besuch sie sich ablichtete. Der Film wäre bald zu Ende und Jochen befände sich gerade auf dem Weg, um Laura abzuholen. Die Haustür würde sich öffnen und sie kämen lachend herein, Laura mit einem noch halb gefüllten Popcorn-Eimer im Arm… Nur zu gern würde sie ihre Realität dagegen eintauschen! Tatjana wischt sich mit der Hand über die Augen, in denen sich schon wieder Tränen sammeln und löst ihren Blick von Lauras Gesicht. Erst da fällt er auf ein Detail im Hintergrund, das sie bisher völlig übersah, weil sie nur auf Laura achtete. Hinter der kleinen Gruppe lachender Mädchen erkennt man den Fahrradständer, ein Stück neben dem Eingang des Kinos. Überrascht registriert sie ein flammend lackiertes Fahrrad, das daran angekettet ist. Das Ding kommt ihr sehr bekannt vor. Was für ein Zufall! Tatjana klickt ein Bild weiter. Dieses scheint Laura selbst geschossen zu haben, aus einer anderen Perspektive als der vorangegangenen. Kerstin, die wohl das andere Foto geschossen hatte, ist nun mit auf dem Bild. Diesmal sieht sie sich auch die Menschen im Hintergrund genauer an und
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