Fida (German Edition)
entdeckt einen Mann, der nicht zur Gruppe gehört, aber direkt in die Kamera zu blicken scheint. Merkwürdig, denkt sie, misst dem aber noch keine Bedeutung bei. Erst einige Bilder später wird sie wird sie stutzig. Es zeigt Laura und Kerstin im Park, auf der Wiese sitzend. Auf dem Weg dahinter ist in genau dem Moment, als die Aufnahme gemacht wurde, ein Radfahrer stehengeblieben und scheint zu den Mädchen hinzusehen. Tatjana vergrößert die Aufnahme, um die Lackierung besser erkennen zu können, aber dadurch wird sie auch unschärfer und am Ende ist sie sich nicht sicher. Es könnte dasselbe Fahrrad sein, das auch ihr schon mehrfach begegnete. Wie seltsam, es gerade auf Lauras letzten Bildern zu entdecken. Es gibt noch mehr Bilder von diesem Tag. Auch die schaut sie nun durch, doch das Rad ist nicht mehr zu entdecken. Doch dann, ungefähr 20 Bilder später, taucht es wieder auf. Dasselbe Rad, an einem anderen Ort, an dem es sich wieder zur selben Zeit befindet, wie ihre Tochter. Wer ist dieser Kerl, der immer dort war, wo sich auch ihre Tochter aufhielt?
Nachdenklich greift Tatjana nach ihrem Weinglas. Ihr Blick ist noch immer auf den Bildschirm gerichtet, was sich als böser Fehler erweist, denn sie greift daneben, bekommt das Glas nicht richtig zu fassen und stößt es um. „Oh Scheiße!“, flucht Tatjana los, als der Rotwein ihre Tastatur überflutet und sich wie ein Sturzbach in ihren Schoß ergießt. Sie versucht noch, das Glas zu fangen, doch es ist längst zu spät. Das dünne, mundgeblasene Kristallglas zerbricht, obwohl der Teppich den Aufprall ein wenig abmildert. Tatjana wählt den kürzesten Weg, rennt ins Bad, greift dort nach einem alten Handtuch, mit dem sie hastig die Tastatur und den Tisch trockenlegt. Erst dann holt sie den Staubsauger, für die Scherben. Die großen sammelt sie vorsichtig auf, bevor sie die kleineren Splitter aufsaugt. Dann versucht sie, so viel Flüssigkeit wie möglich mit dem nun ohnehin schon ruinierten Handtuch aus dem Teppich zu reiben. Als sie fertig ist, erhebt sie sich ächzend. Sie geht in die Küche, holt ein Päckchen Salz und streut den Fleck dick damit ein. Erst jetzt sieht sie an sich selbst herab. „Scheiße, die Hose kann ich wohl wegwerfen“, schimpft sie vor sich hin. „Der Fleck wird nie wieder rausgehen!“ Sie ist wütend auf sich selbst, darüber, dass auch ihr Oberteil ein paar Spritzer abbekam, über die nun rote Färbung des teuren Teppichbodens, in den der Wein sofort einsickerte, wütend auf Gott und die Welt.
Vielleicht ist es diese Wut, in Kombination mit ihrer durchnässten Kleidung, gepaart mit den Fahrradfunden auf Lauras Bildern, die ihre Synapsen in diesem Moment eine Verbindung herstellen lässt, wo es vormals keine zu geben schien. Sie erinnert sich an die Dreistigkeit des Radfahrers, als er sie mit Absicht nass spritzte, an die seltsame Fracht, die er auf seinem Gepäckträger transportierte, als er fast einen Unfall mit dem Bus verursachte, in dem sie ausgerechnet an dem Tag saß, als sie Lauras Bilder bekam. Was ist, wenn es eine Verbindung gab, wenn das alles viel mehr als nur Zufall war, sondern eine Art Wink des Schicksals, mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl? Tatjana lacht auf. Anscheinend habe ich schon mehr vom Wein intus, als es die Schweinerei suggerierte, denkt sie spöttisch. Im Bad entledigt sie sich ihrer nassen Kleidung und legt auch diese in Salz ein. Sie tapst noch mal ins Büro, schaltet den Computer aus und beschließt, am besten ins Bett zu gehen. Dort liegt sie einfach nur da und versucht zu schlafen. Doch der Schlaf will nicht kommen. Ihr Gehirn weigert sich abzuschalten und arbeitet auf Hochtouren. So albern ihr der Gedanke im ersten Moment auch erschien – er lässt sie nicht los.
Kapitel 15
20. Juni 2012
Tom achtete immer darauf, nicht gesehen zu werden, wenn er das Haus betrat, parkte sein Fahrrad stets dahinter, so dass man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Hatte ein Auge darauf, wer sich sonst noch in der Nähe herumtrieb. Er fuhr lieber noch eine Runde um den Block, statt dann zum Haus zu gehen, wenn gerade jemand vorbeilief und ihn dabei beobachten konnte. Die Latten, die er vor die Fenster genagelt hatte, wirkten inzwischen alt und ausgewaschen, durch die Regengüsse im Frühling, die das Holz quellen ließen. Den Garten ließ er verwildern. Fast kniehoch war das Gras inzwischen. Nur die Gräber von Fredi und der Katze hielt er frei. Warum, das wusste er selbst nicht so richtig.
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