Fida (German Edition)
Stahlträgern und alten Schornsteinen spielte.
Seit er Irina kannte, kam sie jeden Tag vorbei, kochte ihm Tee, brachte Hilfreiches wie Kekse oder Zwieback mit – oder Steine, Kronkorken und anderes, von dem nur sie den Nutzen kannte. Sie versorgte ihn mit Essen, Geschirr und immer wieder alten Wolldecken.
„Und du kennst also Rapunzel?“, fragte er. Meistens ein hoffnungsloser Versuch.
„Ja“, erwiderte sie zu seinem Erstaunen, „sie ist aus ihrem Turm geflohen, aber das weißt du ja bestimmt schon.“
„Nein“, schmunzelte er, „das ist mir neu.“
„Ja“, bestätigte sie zufrieden, „ich habe ihr von dir erzählt und sie will dich treffen. Ich habe ihr gesagt, dass du ein Spinner bist, schien ihr aber egal zu sein. Bist du vielleicht in letzter Zeit in ihrem Turm gewesen, du weißt schon, das Ding mit den Haaren, klettern und so?“
Patrik seufzte und blickte an sich herunter, seine schon lange nutzlosen Beine, seine regungslosen Hände. Er kannte Irina seit sechs Jahren. Sie versorgte ihn mit allem, was er brauchte und trotzdem war ihr in der ganzen Zeit nie der Rollstuhl aufgefallen, in dem er saß. Wie sollte er da in irgendwelche Türme klettern, ganz egal, was sie in der Wirklichkeit anderer Menschen darstellten.
„Und warum will sie mich treffen?“, fragte Patrik vorsichtig und rätselte, was Irina ‚Rapunzel’ wohl über ihn erzählt hatte. Hatte er Lindwürmer bezwungen? Den bösen Wolf besiegt? Oder gemästet in einem Käfig gesessen und war von Irina befreit worden?
Irina drehte sich zu ihm um, schaute ihn an und wirkte so, als ob sie selbst darüber nachdenken müsste. Doch dann schüttelte sie den Kopf und widmete sich wieder dem Campingkocher.
„Du solltest es ihr nicht so schwer machen“, sagte sie nach einer Weile. „Weißt du, nicht jeder schafft es, solche Bohnenranken zu bewältigen.“
Er fand es nicht immer leicht herauszufinden, wovon Irina gerade redete, denn nichts sah sie so wie andere Menschen. Doch genau das mochte er besonders gern an ihr. Sie sah in ihm keinen hilflosen Krüppel, der auf Fremde angewiesen war, keinen Kranken, dem die Ärzte vor Jahren nur noch wenig Zeit gegeben hatten. Sie sah in ihm – er lachte leise – einen Spinner!
Als das Wasser kochte, goss Irina es samt Teebeutel in einen der henkellosen Becher. Sie kümmerte sich um ihn mit einer Beständigkeit, die erstaunlich war für jemanden, der nie zweimal denselben Ort erlebte, für den Tage und Monate zusammenflossen und sich dabei in etwas jenseits von Zeit verwandelten, der in verwunschenen Wäldern lebte und den Froschkönig zu seinen Intimfeinden zählte. Patrik hielt es für unwahrscheinlich, dass sie wusste, was sie in den Händen hielt, für sie war es anstatt Tee vielleicht ein Zaubertrank, ein vergifteter Apfel oder ein Stück vom Lebkuchenhaus und dennoch pustete sie in die heiße Flüssigkeit, bis der Tee abgekühlt und trinkbar war.
„Ich hoffe, du weißt, wie das Zeug wirkt“, sagte sie, als sie ihm die Tasse an die Lippen setzte.
Eine Viertelstunde später saß Patrik wieder allein in dem großen Raum. Irina blieb nie sehr lange an einer Stelle. Immer unterwegs, immer auf dem Sprung. Sie konnte nicht anders. So wie er immer am selben Ort lebte, Tag für Tag, Nacht für Nacht, weil auch er nicht anders konnte. Immer in seinem Rollstuhl, zuerst in seiner Sozialwohnung und dann in dieser alten Fabrik, in dieser Halle, die er seit Jahren nicht mehr verlassen hatte. Hier war es immer gleich, nur das Licht, das durch die riesigen und milchig trüben Fenster fiel, änderte sich manchmal. Es war kein Problem für ihn, es ging ihm gut, er war glücklich. Und er war ja auch nicht allein. Er hatte Irina und dann gab es da auch noch die Kinder.
Als Irina gegangen war, tauchte hinter der rostigen Schiebetür ein kleines Gesicht auf.
„Hallo Martha“, sagte Patrik und das Mädchen trat in den Raum.
Es war vielleicht acht Jahre alt, hatte blonde, verfilzte Locken, die ihm struppig auf die Schultern fielen, trug einen alten Pullover mit zu langen Ärmeln und eine abgewetzte braune Cordhose. In dem hellen Gesicht leuchteten zwei eisgrüne Augen, die Patrik ernst ansahen.
„Geht es euch gut?“, fragte er.
„Hm“, machte das Mädchen und betrachtete beleidigt die leere Tasse, die neben Patriks Rollstuhl auf dem Boden stand. „Tee! Das wollte ich doch machen.“
Patrik lächelte sie an. Von
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