Fida (German Edition)
Dreck noch die Kälte in der verlassenen, baufälligen Hütte wahr. Sie trug zerschlissene Turnschuhe, die ihr einstiges Rot nur erahnen ließen, Jeans – abgewetzt, schmutzig und voller Löcher – und eine alte Lederjacke, die genauso zu ihr gehörte, wie ihre tief liegenden braunen Augen, die schmalen Lippen und die mit grau durchzogenen stumpfen braunen Haare, die sie selber planlos kurz schnitt.
Die viel befahrene Straße, nicht einmal 50 Meter entfernt, gehörte einer anderen Welt an. Die weitläufige Gartenkolonie musste einst einem Bauprojekt weichen, doch nachdem ein Supermarkt und ein Parkplatz gebaut worden waren, ging dem Investor das Geld aus und nun wucherten hinter Bauzäunen, zwischen Schnellstraße und Supermarkt, neben Bahngleisen und Lagerhallen die einst so zahmen Zierblumen zusammen mit wilden Sträuchern zu einem undurchdringlichen Dickicht heran. Ein Wall aus Brombeerdornen und Schlingpflanzen, stark genug, um Schlösser und Burgen zu versiegeln, um unbedarfte Prinzen zu fangen.
Hinter den sieben Bergen ...
Der billige PVC-Boden lag verdeckt unter einer Schicht aus Glasscherben, Putz, vergilbter Tapete, verrosteten Spraydosen und Resten des alten Mobiliars. Regen tropfte durch Löcher im Dach und sammelte sich in Pfützen. Nichts von dem hatte Irina jemals bemerkt. Sie prüfte mit den Fingern die Temperatur eines Lötkolbens. Hinter ihr ratterte, nach Benzin und verbranntem Öl stinkend, ein Generator. Mit dem Lötkolben war er durch ein brüchiges Kabel verbunden, die blanken Drähte nur Millimeter von brackigen Pfützen entfernt. Manchmal knisterte es Unheil verkündend. Irina nahm keine Notiz davon.
„Patrik!“, stöhnte sie noch einmal und fügte dann zufrieden hinzu, als wäre ihr der Gedanke eben erst gekommen, „Patrik ist ein Spinner!“
Sie kicherte leise in sich hinein, verwundert darüber, dass ihr diese einfache Wahrheit, die doch alles erklärte, nicht früher eingefallen war.
Irina gegenüber saß eine sehr junge Frau. Ihre Haut weiß wie Schnee und ihr blondes Haar leuchtete gegen den trüben Winter an. Sie lauschte dem Nachhall von Irinas Worten, dem Knistern, das sie nicht deuten konnte, dem Rattern des Generators und dem fernen Rauschen des Straßenverkehrs. Im Gegensatz zu Irina spürte sie die Kälte, den eisigen Luftzug, die Feuchtigkeit, mit der sich ihre Kleider vollsogen, den Dreck und Mörtel, in dem sie saß.
Sie genoss alles davon.
Es war so ganz anders als zu Hause. Dort herrschte immer drückende Hitze, die Heizkörper selbst im Sommer aufgedreht. Jedes kleinste Staubkorn sofort von ihrer Mutter weggewischt, als wäre es ein Eindringling, ein Feind.
Gestern war sie ohne Vorwarnung ausgezogen, war ihr die Flucht gelungen.
Als sie es ihren Eltern mitteilte, den Koffer schon gepackt, schwieg ihr Vater, starrte auf seine Hände und bog den Rücken, als krümme er sich unter Schmerzen. Im Gesicht ihrer Mutter zuckte kurz etwas, doch dann stand sie einfach auf und begann die Wohnung zu putzen. Die junge Frau kannte das, in diesem Zustand war ihre Mutter nicht ansprechbar. Manchmal hielt er tagelang an.
Als im Wohnzimmer das Röhren des Staubsaugers erklang, fragte sie leise: „Papa, du verstehst es doch, oder?“
Er zitterte, vielleicht nickte er ganz schwach, aber wenn, dann war es ihm nicht bewusst. Ein unterdrückter Laut wollte seiner Kehle entweichen, doch sein Hals schnürte sich zu. Vielleicht hatte er ihren Namen sagen wollen, ‚Katharina’, vielleicht war es aber auch nur der Schrei eines Ertrinkenden. Schließlich griff er in seine Brieftasche und drückte ihr alles Geld, das er bei sich hatte in die Hand. Als sie ging, um in ihr neues Leben aufzubrechen, konnte er sie nicht einmal zum Abschied ansehen.
„Wie kann ich denn Patrik finden?“, fragte Katharina die Frau vor ihr.
„Patrik kann man nicht finden!“, antwortete Irina prompt – ungeduldig, weil die Leute immer wieder solche dummen Fragen stellen.
‚Patrik finden, wirklich!’, Irina schnaubte verächtlich.
Ein einzelner Lichtstrahl – ein Irrläufer wohl, denn dieser März war nicht licht – fiel durch die leeren Öffnungen der Fenster und verfing sich in ihren blonden Haaren.
Irgendwo, weit entfernt, weit unten – bei den Ratten vielleicht - hob jemand den Kopf, um zu sehen, was dort leuchtete. Und zum ersten Mal seit tausend Jahren öffnete er sein einziges Auge, um es geblendet
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