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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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sie nicht besonders gründlich verändert hatte. Sie war immer noch vorwiegend in Blau und Weiß und Silber gehalten, obgleich man die Radkästen in einem aufdringlichen grellen Rot gestrichen hatte wie die Lippen einer Hure in Natchez. Der Name war in gelben Lettern aufgeschrieben worden, die sich schief und unordentlich um die Kante des Radkastens herum erstreckten; OZYMANDIAS lautete das Wort. Marsh verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. »Sehen Sie das große Schiff da drüben?« fragte er den Lotsen und zeigte mit dem Finger in die Richtung. »Gehen Sie so dicht heran, wie Sie es gerade schaffen, verstanden?«
    »Yessuh, Cap’n.«
    Marsh betrachtete die Stadt mit Abscheu. Die Schatten in den Straßen wurden bereits länger und tiefer, und auf dem Fluß lag der scharlachrote und goldene Hauch des Sonnenuntergangs. Außerdem war es bewölkt, verdammt noch mal viel zu bewölkt. Sie hatten viel Zeit am Holzplatz und auf der Abkürzung verloren, und der Sonnenuntergang im Oktober setzte viel früher ein als im Sommer.
    Kapitän Yoerger hatte das Ruderhaus betreten und begab sich an seine Seite und sprach aus, was Marsh dachte. »Heute abend können Sie nichts unternehmen, Cap’n Marsh. Es ist schon zu spät. In weniger als einer Stunde ist es völlig dunkel. Warten Sie lieber bis morgen.«
    »Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?« schnappte Marsh. »Natürlich warte ich. Diesen Fehler habe ich einmal begangen, ein zweitesmal mache ich ihn nicht mehr.« Er stieß wütend seinen Spazierstock auf das Deck. Yoerger wollte etwas sagen, aber Marsh hörte nicht zu. Er betrachtete noch immer den großen Seitenraddampfer am Pier. »Verdammt!« stieß er plötzlich hervor.
    »Was ist los?«
    Marsh streckte seinen Hickorystock aus. »Qualm«, sagte er. »Verfluchte Bande, sie heizen ein. Offenbar wollen sie ablegen.«
    »Überstürzen Sie nichts« warnte Yoerger. »Wenn sie ablegt, dann legt sie ab, aber wir werden sie irgendwo flußabwärts schon wieder einholen.«
    »Sie fahren offenbar nur nachts«, sagte Marsh, »und machen tagsüber irgendwo fest. Das hätte ich mir eigentlich denken können.« Er wandte sich an den Lotsen. »Mister Norman«, sagte er, »legen Sie nicht an. Dampfen Sie weiter flußabwärts und machen Sie am nächstmöglichen Holzplatz halt, und dann warten Sie dort, bis das andere Schiff vorbeikommt. Anschließend folgen Sie ihr, so gut Sie können. Sie ist verdammt viel schneller als die Eli Reynolds , deshalb machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sie verlieren, halten Sie nur ihren Kurs flußabwärts und blieben Sie so dicht an ihr dran wie möglich.«
    »Wie Sie meinen, Cap’n«, entgegnete der Lotse. Er drehte das abgewetzte Ruder Hand über Hand herum, und die Eli Reynolds schwang mit dem Bug jäh herum und glitt zurück in die Mitte der Fahrrinne.
    Sie hatten neunzig Minuten am Holzplatz gelegen, und es war seit etwa zwanzig Minuten Nacht, als die Fiebertraum vorüberdampfte. Marsh erschauerte, als er sie herankommen sah. Der riesige Seitenraddampfer zog mit geschmeidiger Eleganz flußabwärts, mit einer gekonnten Lässigkeit, die ihn irgendwie an Damon Julian und seine Bewegungen erinnerte. Sie war zur Hälfte dunkel. Das Hauptdeck wurde vom rötlichen Schein aus den Feuerstellen erhellt, doch nur wenige Kabinenfenster auf dem Kesseldeck waren erleuchtet, und das Texasdeck und auch das Ruderhaus waren völlig dunkel. Marsh glaubte die einsame Gestalt dort oben sehen zu können, wie sie am Ruder stand, aber es war zu weit weg, als daß er sich dessen völlig sicher hätte sein können. Der Mond und die Sterne schienen bleich auf die weiße Farbe und die Silberbeschläge, und die roten Radkästen wirkten im Kontrast dazu geradezu obszön. Als sie vorüberdampfte, tauchten ein Stück weiter flußabwärts die Lichter eines anderen Dampfers auf und kamen auf sie zu, und sie riefen sich in der Nacht gegenseitig Grüße zu. Marsh hätte ihre Pfeife sofort und überall erkannt, aber nun erschien es ihm, daß sie einen kalten und traurigen Klang hatte, den er noch nie zuvor gehört hatte, ein melancholisches Klagen, das von Leid und Verzweiflung kündete.
    »Halten Sie Abstand, aber folgen Sie ihr«, wies er seinen Lotsen an. Ein Deckshelfer löste die Leine, die sie am Haltepfosten des Holzplatzes fixiert hatte, und die Eli Reynolds schluckte eine Menge Teer und Tannenkloben und suchte schnaubend die Fahrtrinne und folgte ihrer größeren, weit vor ihr laufenden Kusine. Ein oder

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