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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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er am Turmfenster saß, konnte er auf den Fluß hinausschauen. Er verbrachte viele Abende und Nächte hier oben, lesend, trinkend und aufs Wasser hinausblickend. Der Fluß bot im Mondschein einen wunderschönen Anblick, und er strömte an ihm vorbei, weiter und weiter, wie er schon dahingeströmt war, ehe er geboren wurde, und wie er noch strömen würde, wenn er tot und begraben wäre. Wenn er ihm zusah, breitete sich ein tiefer Frieden in Marsh aus, und dieses Gefühl war ihm sehr wertvoll. Die meiste Zeit über war er müde und melancholisch. Er hatte einmal ein Gedicht von Keats gelesen, in dem es hieß, daß nichts so traurig sei wie etwas Schönes, das sterben muß, und es kam Marsh so vor, als läge auf jedem schönen Ding in dieser Welt der Fluch der Vergänglichkeit. Marsh war auch einsam. Er hatte so lange auf dem Fluß gelebt, daß er in Galena keine richtigen Freunde hatte. Er bekam nie Besuch, redete mit niemandem als mit seiner verdammt lästigen Haushälterin. Sie ärgerte ihn beträchtlich, aber Marsh machte es im Grunde nichts aus; es war das einzige, das ihm gelegentlich noch das Blut in Wallung brachte. Manchmal dachte er, daß sein Leben vorüber sei, und das machte ihn so wütend, daß sich sogar sein Gesicht rötete. Es gab immer noch so viele Dinge, die er nie getan hatte, so viele unerledigte Angelegenheiten . . . Aber es ließ sich nicht leugnen, daß er alt wurde. Er hatte den alten Hickorystock immer bei sich, um ihn als Zeigestock zu benutzen und um elegant auszusehen. Nun hatte er einen teuren Stock mit goldenem Griff, der ihm das Gehen erleichterte. Und er hatte Falten um die Augen und sogar zwischen den Warzen und einen seltsamen braunen Fleck auf dem Rücken der linken Hand. Manchmal betrachtete er ihn und fragte sich, wie er wohl dorthin gekommen war. Er war ihm nie aufgefallen. Dann zerbiß er einen Fluch zwischen den Zähnen und griff nach einer Zeitung oder nach einem Buch.
    Marsh saß in seinem Salon und las in einem Buch von Mister Dickens über seine Fahrten auf dem Fluß und durch Amerika, als seine Haushälterin einen Brief brachte. Er hustete überrascht und legte das Buch von Dickens auf den Tisch, wobei er halblaut murmelte: »Dämlicher Engländer, würde ihn am liebsten in den verdammten Fluß werfen.« Er nahm den Brief entgegen, riß ihn auf und ließ den Umschlag auf den Fußboden flattern. Einen Brief zu erhalten, war schon eine seltene Angelegenheit, aber der war noch sonderbarer; er war an die Fevre River Packets in St. Louis adressiert und ihm nach Galena nachgeschickt worden. Abner Marsh faltete das knisternde, leicht vergilbte Papier auseinander und atmete plötzlich zischend ein.
    Es war altes Briefpapier, und er erinnerte sich sehr gut daran. Er hatte es vor dreizehn Jahren drucken und in die Schreibtischschublade in jeder Kabine seines Dampfers legen lassen. Am oberen Rand befand sich eine schöne Federzeichnung von einem großen Seitenraddampfer sowie der Schriftzug FIEBERTRAUM in reichverzierten geschwungenen Lettern. Er kannte auch die Handschrift, diesen graziösen, flüssigen Schwung. Die Nachricht war kurz:
    Lieber Abner,
    Ich habe meine Wahl getroffen.
    Wenn Sie wohlauf sind und Lust haben, dann kommen Sie
    so bald wie möglich zu mir nach New Orleans. Sie finden
    mich im Green Tree in der Gallatin Street.
    - Joshua
    »Verdammte Hölle!« fluchte Marsh. »Nach dieser langen Zeit glaubt dieser verdammte Narr, er kann mir einen kurzen Brief schicken und erwarten, daß ich sofort nach New Orleans aufbreche!
    Und dazu noch ohne ein Wort der Erklärung! Wer, zum Teufel, glaubt der eigentlich zu sein?«
    »Ich kann Ihnen das bestimmt nicht beantworten«, sagte seine Haushälterin.
    Abner Marsh sprang auf. »Frau, wo, zum Teufel, haben Sie meinen weißen Rock hingehängt?« brüllte er.

KAPITEL EINUNDDREISSIG
 
New Orleans, Mai 1870
     
     
    D ie Gallatin Street sah aus wie die Hauptstraße durch die Hölle, fand Abner Marsh, während er sie entlangeilte. Sie war gesäumt mit Tanzhallen, Saloons und Freudenhäusern, alle überfüllt, schmuddelig und laut, und auf den Gehsteigen wimmelte es von Betrunkenen, Huren und Taschendieben. Die Huren riefen ihm spöttische Einladungen hinterher, die in wütendes Geschrei übergingen, als er sie nicht beachtete. Rauhe Männer mit kalten Augen und mit Messern und Messingschlagringen musterten ihn mit einem Ausdruck offener Feindseligkeit und weckten in ihm den Wunsch, nicht so wohlhabend und gleichzeitig so

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