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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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beharrte Kitch.
    »Und dies hier ist die Fiebertraum , damit Sie es niemals vergessen!« brüllte Marsh. Er wandte sich um und stürmte mit finsterem Gesicht aus der Kabine. Diese verdammten Lotsen, die kamen sich vor, als wären sie die Könige des Flusses. Natürlich waren sie das, wenn das Boot erst einmal auf dem Fluß unterwegs war, aber das gab ihnen noch nicht das Recht, sich gegen ein kleines Wettrennen zu sträuben und die Fähigkeiten seines Raddampfers anzuzweifeln.
    Seine Wut verflog, als er sah, daß die Southerner bereits weitere Passagiere aufnahm. Er hatte auf eine solche Gelegenheit gewartet, seit er die Southerner quer über den Fluß in Louisville gesichtet hatte, aber er hatte nicht zu hoffen gewagt, daß es so schnell dazu kommen würde. Wenn die Fiebertraum die Southerner einholen konnte, dann wäre ihr Ruf schon halb gefestigt, sobald die Leute am Fluß davon erfuhren. Der andere Raddampfer und seine Schwester, die Northerner , waren der Stolz der ganzen Linie. Es waren ganz besondere Schiffe, im Jahr ’53 ausschließlich auf Geschwindigkeit gebaut. Kleiner als die Fiebertraum , waren sie die einzigen Dampfschiffe, von denen Marsh wußte, daß sie keine Fracht, sondern nur Passagiere transportierten. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie sich etwas verdienen ließ, aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, wie schnell sie waren. Die Northerner hatte einen neuen Rekord für die Strecke Louisville-St. Louis aufgestellt, damals, im Jahr ’54. Im darauffolgenden Jahr hatte die Southerner ihn unterboten, und ihre Zeit war noch immer die kürzeste; ein Tag und neunzehn Stunden genau. Hoch oben an ihrem Ruderhaus trug sie das goldene Geweih, das sie als schnellsten Raddampfer auf dem Ohio kennzeichnete.
    Je mehr er sich mit der Aussicht beschäftigte, es mit ihr aufnehmen zu können, desto aufgeregter wurde Abner Marsh. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß dies etwas war, das Joshua sicherlich auf keinen Fall versäumen wollte, Schönheitsschlaf hin, Schönheitsschlaf her. Marsh stampfte nach vorn zu Yorks Kabine, entschlossen, ihn herauszutrommeln. Er klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks heftig an die Tür.
    Keine Antwort. Marsh klopfte erneut, lauter und drängender. »Hallo da drin!« dröhnte er. »Schwingen Sie sich aus dem Bett, Joshua, wir veranstalten ein Wettrennen!«
    Noch immer drang kein Geräusch aus Yorks Kabine. Marsh drehte den Knauf und fand die Tür verschlossen. Er rüttelte daran, schlug gegen die Kabinenwände, trommelte gegen die Fensterläden, brüllte; alles war zwecklos. »Verdammt noch mal, York«, schimpfte er, »kommen Sie hoch, oder Sie versäumen alles!« Dann hatte er eine Idee. Er ging zurück zum Ruderhaus. »Mister Kitch, Sir!« rief er hinauf. Abner Marsh konnte alles übertönen, wenn er seine Lunge füllte und ihre ganze Kraft einsetzte. Kitch schob den Kopf aus der Tür und schaute zu ihm herab. »Lassen Sie mal die Pfeife erschallen«, bat Marsh ihn, »und pfeifen Sie solange, bis ich abwinke, verstanden?«
    Er kehrte zu Yorks verschlossener Tür zurück und schlug wieder heftig dagegen, und plötzlich stieß die Dampfpfeife ihren durchdringenden Schrei aus. Einmal. Zweimal. Dreimal. Lange, wütende Stöße. Marsh ließ dazu seinen Spazierstock wirbeln.
    Yorks Kabinentür schwang auf.
    Marsh warf einen gründlichen Blick auf Yorks Augen, und sein Mund blieb mitten im Ruf offen stehen. Die Dampfpfeife ertönte wieder, und er winkte hastig. Sie verstummte. »Kommen Sie rein«, flüsterte Joshua York mit eisiger Stimme.
    Marsh trat ein, und York schlug die Tür hinter ihm zu. Marsh hörte, wie er abschloß. Sehen konnte er es nicht. Er sah überhaupt nichts. Sobald die Tür ins Schloß gefallen war, herrschte in Yorks Kabine eine Finsternis wie in einem tiefen Schacht. Nicht ein Lichtstrahl drang unter der Tür oder durch die mit Läden verbarrikadierten und mit Vorhängen verhüllten Fenster herein. Marsh kam sich vor, als wäre er plötzlich erblindet. Aber in seinem Gedächtnis blieb eine Vision haften, das letzte, was er erkannt hatte, ehe es dunkel wurde. Joshua York in der Türöffnung stehend, so nackt wie am Tag seiner Geburt, die Haut so todeshaft weiß wie Alabaster, die Lippen in tierhafter Wut verzerrt, die Augen wie zwei rauchige graue Schlitze, hinter denen die Hölle lauerte.
    »Joshua«, sagte Marsh, »können Sie keine Lampe anzünden? Oder die Vorhänge aufziehen? Ich kann nichts sehen.«
    »Ich kann sehr gut sehen«,

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