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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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mich, ob Cap’n York sich da auskennt.«
    »Natürlich tut er das«, sagte Marsh und stemmte sich aus dem Sessel hoch. »Geben Sie das mal her.« Er streckte eine Hand aus. Jeffers reichte ihm das Buch. »Fangen Sie jetzt an, sich für Dichtung zu interessieren, Cap’n?«
    »Das geht Sie doch wohl nichts an«, entgegnete Marsh und ließ das Buch in seine Tasche gleiten. »Haben Sie eigentlich nichts in Ihrem Büro zu tun?«
    »Gewiß doch«, sagte Jeffers. Er empfahl sich. Drei oder vier Minuten lang stand Abner Marsh in der Bibliothek und kam sich ziemlich seltsam vor; das Gedicht hatte eine erschütternde Wirkung auf ihn gehabt. Vielleicht steckte am Ende sogar etwas hinter dieser Dichterei, dachte er. Er beschloß, zu seiner Zerstreuung das Buch zu lesen und zu versuchen, selbst eine Erklärung zu finden.
    Marsh hatte jedoch noch einige eigene Angelegenheiten zu regeln, und die hielten ihn den größten Teil des Nachmittags bis in den frühen Abend beschäftigt. Anschließend vergaß er das Buch in seiner Tasche. Karl Framm wollte nach New Orleans und mit Charles einen trinken gehen, und Marsh beschloß, sich ihm anzuschließen. Es war schon fast Mitternacht, als sie auf die Fiebertraum zurückkehrten. Während er sich in seiner Kabine auszog, fiel Marsh das Buch wieder in die Hände. Er legte es behutsam auf seinen Nachttisch, streifte sich das Nachthemd über und machte es sich bequem, um beim Kerzenschein noch etwas zu lesen.
    ›Finsternis‹ erschien bei Nacht und in der dämmerigen Abgeschiedenheit seiner kleinen Schiffskabine noch unheimlicher, obgleich in den gedruckten Worten auf dem Papier nicht die eisige Bedrohung mitschwang, die Jeffers ihnen mit seinem Vortrag verliehen hatte. Trotzdem beunruhigten sie ihn. Er blätterte weiter und las ›Senheribs Untergang‹ und ›In ihrer Schönheit wandelt sie‹ und noch einige andere Gedichte, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu ›Finsternis‹ zurück. Trotz der Hitze der Nacht kroch Abner Marsh eine Gänsehaut über die Arme.
    Im vorderen Teil des Buches befand sich ein Bild von Lord Byron. Marsh betrachtete es lange. Er sah hübsch aus, dunkel und sinnlich wie ein Kreole; es war leicht zu erkennen, warum die Frauen seine Gunst suchten, auch wenn er angeblich ein Krüppel gewesen sein sollte. Natürlich war er zugleich Adliger. So stand es unter seinem Bild:
    GEORGE GORDON, LORD BYRON
    1788-1824
    Abner Marsh betrachtete Byrons Gesicht eine Zeitlang eingehend und ertappte sich dabei, wie er den Dichter um sein gutes Aussehen beneidete. Schönheit war noch nie etwas gewesen, das er am eigenen Leibe erlebt hatte; wenn er von großartigen, prachtvollen Raddampfern träumte, dann lag es wahrscheinlich daran, daß es ihm selbst so sehr an Schönheit mangelte. Mit seinem Wanst, seinen Warzen und seiner plattgeschlagenen Nase hatte Marsh sich nie den Kopf über Frauen zerbrechen müssen. Als er noch jünger war und mit Flößen oder Flachbooten auf dem Fluß unterwegs war, und auch nachdem er einige Zeit auf den Dampfern gearbeitet hatte, hatte Marsh Orte in Natchez- under-the-Hill und in New Orleans aufgesucht, wo ein Flußmann eine ganze Nacht lang zu einem anständigen Preis seinen Spaß haben konnte. Und später, als die Fevre River Packets aufzublühen begann, waren da ein paar Frauen in Galena und Dubuque und St. Paul gewesen, die ihn geheiratet hätten, wären sie nur darum gebeten worden; gute, standhafte, strenggesichtige Witwen, die den Wert eines gesunden starken Mannes, wie er einer war, mit all seinen Dampfbooten, zu schätzen wußten. Aber sie hatten nach seinem Unglück sehr schnell das Interesse verloren, und außerdem waren sie niemals das gewesen, was er sich gewünscht hatte. Als Abner Marsh sich gestattete, über diese Dinge nachzudenken, was nicht allzu häufig geschah, träumte er von Frauen wie den dunkeläugigen Kreolinnen und den hellbraunen freien Terzeroninnen von New Orleans, schlank und graziös und stolz wie seine Dampfboote.
    Marsh schnaubte und blies seine Kerze aus. Er versuchte zu schlafen. Aber seine Träume waren wirr und unheimlich; Worte hallten schwach und angsteinflößend in den düsteren Windungen seines Geistes wider.
    . . . der Morgen kam und ging und kam und brachte doch keinen Tag . . .
    . . . mit Blut erkauft war jedes Mahl, das jeder einsam mürrisch verschlang.
    . . . und in dem öden Graus Vergaßen ihre Leidenschaft die Menschen.
    . . . mit Blut erkauft ward jedes Mahl
    . . . ein erstaunlicher

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