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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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Genauso ist es mit der Dichtung, Cap’n. Ein Dichter könnte, was er zu sagen hat, auch einfach und klar ausdrücken, ganz bestimmt sogar, aber wenn er seine Botschaft in Reime und in ein bestimmtes Versmaß packt, dann klingt alles etwas großartiger.«
    »Na ja, kann sein«, meinte Marsh zweifelnd.
    »Ich wette, daß ich ein Gedicht finden könnte, das auch Ihnen gefällt«, sagte Jeffers. »Byron hat so eins nämlich geschrieben. ›Senheribs Untergang‹ lautet sein Titel.«
    »Und wo ist das?«
    »Es muß heißen: wer, nicht wo«, verbesserte Jeffers ihn. »Es ist ein Gedicht über einen Krieg, Cap’n. Ein wundervoller Rhythmus liegt darin. Es trabt so lebhaft dahin wie ›Buffalo Girls‹.« Er stand auf und glättete seinen Rock. »Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.«
    Marsh leerte seine Kaffeetasse, stand auf und folgte Jonathan Jeffers nach achtern in die Bibliothek der Fiebertraum . Er ließ sich erleichtert in einen großen Polstersessel fallen, während der Zahlmeister die Regale absuchte, die den Raum füllten und bis zur Decke reichten. »Da ist es ja«, sagte Jeffers schließlich und zog einen mittelgroßen Band heraus. »Ich wußte doch, daß wir irgendwo ein Buch mit den Gedichten Byrons haben mußten.« Er ging die Seiten durch - einige waren noch nicht aufgeschnitten worden, und er trennte sie mit einem Fingernagel -, bis er fand, wonach er suchte. Dann warf er sich in die Brust und las ›Senheribs Untergang‹.
    Das Gedicht hatte wirklich einen ganz eigentümlichen Rhythmus, das mußte Marsh zugeben, vor allem wurde er durch Jeffers’ Vortrag deutlich. Aber es erinnerte nicht an ›Buffalo Girls‹. Trotzdem gefiel es ihm irgendwie. »Nicht schlecht«, lobte er ehrlich, als Jeffers seine Lesung beendet hatte. »Das Ende hätte er sich schenken können. Diese verdammten Bibelschwinger müssen am Ende fast immer mit dem lieben Gott kommen.«
    Jeffers lachte. »Lord Byron war kein Bibelfreund, das kann ich Ihnen versichern«, sagte er. »Er war sogar sehr unmoralisch. Jedenfalls wird es so berichtet.« Er bekam wieder einen nachdenklichen Blick und begann erneut zu blättern.
    »Was suchen Sie jetzt?«
    »Das Gedicht, an das ich mich bei Tisch zu erinnern versucht habe«, antwortete Jeffers. »Byron hat auch ein Gedicht über die Nacht geschrieben. Es widerspricht eigentlich - ah, da ist es ja.« Er ließ den Blick über die Buchseite gleiten und nickte. »Hören Sie sich das einmal an, Cap’n. Der Titel lautet ›Finsternis‹.« Er begann vorzulesen.
    Ich hatte einen Traum, der nicht ganz Traum:
    Das Licht der Sonne war verlöscht, die Sterne
    Im Dunkel durch die ew’gen Räume zogen,
    Strahllos und pfadlos, und die kalte Erde
    Hing schwarz und blind im mondlos trüben Äther.
    Der Morgen kam und ging und kam und brachte
    Doch keinen Tag, und in dem öden Graus
    Vergaßen ihre Leidenschaft die Menschen,
    Und aller Herzen flehten bang um Licht . . .
    Die Stimme des Zahlmeisters hatte einen hohlen, unheimlichen Klang angenommen, während er las; das Gedicht dauerte und dauerte, länger als jedes andere. Marsh konnte schon bald die Worte nicht mehr richtig verfolgen, aber sie berührten ihn gleichwohl und füllten den Raum mit einem furchterregenden kalten Hauch. Phrasen und Fetzen von Textzeilen geisterten durch sein Gemüt; das Gedicht war voll von düsteren, vergeblichen Gebeten, von Verzweiflung, Wahnsinn und mächtigen Begräbnisfeuern, von Krieg und Hunger und Menschen, die sich benahmen wie Bestien.
    . . . mit Blut erkauft
    Ward jedes Mahl, das jeder einsam mürrisch
    Verschlang; nur ein Gedanke war die Erde,
    Und dieser: Tod - ruhmlos und allzu nah.
    Des Hungers Wut zerfraß die Eingeweide,
    Und unbegraben blieb der Sterbenden
    Gebein und Fleisch; der Magere verschlang
    Den Magren, Hunde fielen ihre Herrn
    und Jeffers las weiter, Zeile um Zeile, bis er zum Ende kam:
    Sie schliefen überm strudellosen Abgrund.
    Die Wogen tot - die Fluten in dem Grab -
    Der Mond, ihr Herrscher, vorher schon gestorben;
    Die Winde moderten in stiller Luft,
    Die Wolken kamen um, die Finsternis
    Bedurfte ihrer nicht - sie war die Welt.
    Er klappte das Buch zu. »Delirien«, sagte Marsh. »Das klingt nach einem Mann, der sich im Fieberwahn befindet.«
    Jonathon Jeffers lächelte matt. »Es gab noch nicht einmal eine göttliche Erscheinung.« Er seufzte. »Ich glaube, Byron hatte zur Finsternis ein gespaltenes Verhältnis. In diesem Gedicht jedenfalls ist von Unschuld nicht viel zu finden. Ich frage

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