Fifth Avenue--Ein Thriller (German Edition)
völlig
ungerührt und absolut undurchschaubar.
Mit
einem Mal wurde Louis nervös. Als sich Horrigan wieder setzte, suchte Louis in
den Augen des jüngeres Mannes nach einem Zeichen des Triumphs, nach einem
Schimmer des Sieges, aber er fand weder das eine noch den anderen. Er blickte
die Länge des Tisches hinunter, streifte jedes düstere Gesicht und zögerte, als
er auf Charles Stouts Lippen etwas bemerkte, das einem Lächeln gleichkam.
Konnte
es sein, dass sie seinen Vorschlag nicht annahmen?
„Louis,”
sagte Florence Holt. „Es ist mit großem Bedauern, dass ich Sie dahingehend
informieren muss, dass der Vorstand entschieden hat, die Übernahme von Redman
International nicht weiter zu verfolgen.”
Wie
vom Blitz getroffen setzte sein Herz ein paar Schläge aus. Wie konnten die nur ...?
Holt
faltete die Hände auf dem Tisch. Sie sprach mit fester Stimme. „Es ist unsere
Auffassung, dass wir unser Unternehmen ins Spiel bringen würden, wenn wir
Redman International ein Angebot machten, und zwar ungeachtet der Tatsache von
George Redmans $10 Milliardenfehler – und die Aktien würden in die Höhe
schießen, was sich letztendlich als nachteilhaft für uns und unsere
Aktionäre erweisen würde, sollten
wir Höchstpreise zahlen müssen. Wie Sie wissen, mit Redman International an der
Spitze der ...”
Ihre
Stimme wurde immer schwächer, bis er nur noch das Rauschen des eigenen Blutes
hörte, das heiß und sengend durch seinen Kreislauf strömte.
* * *
Zurück
in seinem Büro trat er and den Schreibtisch und zu der Fotografie von Anne, die
dort stand. Nach all den Jahren besaß sie noch immer Macht über ihn, hatte
Einfluss auf ihn, und ihre Ausstrahlung fesselte ihn ebenso wie an jenem
windigen Nachmittag im März, wo sie sich zum ersten Mal getroffen hatten und
einer Gruppe entlaufener Hunde durch die Innenstadt von Cambridge hinterher
gejagt waren. Indem er sie so ansah und darüber nachdachte, was hätte sein
können, trank er den letzten Schluck aus seinem Glas und schloss die Augen
– und die Jahre traten hervor, als hätte man einen Schleier entfernt.
Er
war wieder jung und stolperte blindlings einen steilen Uferdamm hinunter,
drängte sich an Gruppen von entsetzten Schaulustigen vorbei, rutschte auf dem
pockennarbigen Schnee aus und kam kurz vor einem Fluss zum Stehen, der nicht
länger zugefroren war, sondern auf dem jetzt Eisschollen trieben.
Die
Luft war bitterkalt und geladen mit Besorgnis und Aufregung. Schnee fiel von
dem nächtlichen Himmel. Hoch oben auf der beschädigten Brücke standen
Polizisten mit Suchscheinwerfern und beleuchteten das aufschäumende Wasser,
legten das große Loch in der zerborstenen Oberfläche des Flusses bloß und boten
einen kurzen Blick auf etwas, das man für rote Farbe hätte halten können.
Von
seinem Standpunkt aus, der lediglich ein paar hundert Meter von der Brücke und
dem Krater darunter entfernt war, konnte Louis das Schicksal seiner Frau
mitverfolgen, konnte den schimmernden Kotflügel ihres Wagens erkennen, der
langsam unter der sprudelnden Oberfläche versank.
Selbst
in jenen Augenblicken hegte er die Vermutung, dass dies kein Unfall war.
Nun,
da sein Kopf durch den gefassten Entschluss wieder klar war, schritt er zu dem
Wandsafe hinter dem Hochzeitsbild seiner Eltern und gab den Code ein. Er
öffnete die metallene Tür und blickte in ein bernsteinfarbenes Licht.
Darin
befand sich Annes Tagebuch, ein dünnes und schmales Aufsatzheft, das er ein
Jahr nach ihrem Tod gefunden hatte. Sie hatte es in einer unscheinbar wirkenden
Blechdose hinter einem antiken Schrank versteckt auf ihrem Dachboden
aufbewahrt. Konnte es sein, dass ihre Liebe so unvollkommen war? Konnte es
sein, dass sie wirklich an seiner Liebe zu ihr zweifelte?
Das
Buch war klein und delikat. Sein schwarzgrauer, marmorierter Deckel hatte einen
Riss und war aufgrund seines Alters verblichen. Sein Einband war gebrochen. Die
Seiten waren im Begriff, sich zu lösen.
Vorsichtig
trug Louis das Tagebuch zu seinem Schreibtisch und schlug es bei Annes letztem
Eintrag auf. Allein der erneute Anblick ihrer Handschrift ließ einen Schmerz in
seiner Brust aufkommen.
Der
Eintrag war nur zwei Tage vor ihrem Tod erfolgt. Das war an dem Tag, als George
Redmans letzte Berufung vor Gericht abgelehnt worden war. Während Louis ihn
nochmals las, entfachten ihre verdammenden Worte ein sprichwörtliches Feuer in
seinem Bauch; Wut überkam ihn, und er riss die Seite heraus.
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