Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
drin, und sie saß Kette rauchend am Gowanus-Schiffskai mit ihrem Freund, dem Halbork. Quentin hatte den Test bestanden, sie war durchgefallen. Es schien, als seien Vernunft und Intelligenz nicht mehr das einzig Entscheidende. Diese Fähigkeiten hatten die Prüfer nicht interessiert.
Als Quentin an diesem Tag fortging, fiel Julia endgültig ins Bodenlose.
Depression war wahrscheinlich die passende Bezeichnung für ihren Zustand. Sie fühlte sich die ganze Zeit unendlich beschissen. Wenn man das unter Depression verstand, dann hatte sie eine. So was musste ansteckend sein. Das Leben hatte sie infiziert.
Der Seelenklempner, zu dem man sie schickte, diagnostizierte etwas spezifischer eine Dysthymie, also die Unfähigkeit, das zu genießen, was sie am Leben genießen sollte. Das konnte sie immerhin bestätigen, denn sie genoss überhaupt nichts mehr, obwohl das Wort »sollte« einen so großen Bedeutungsspielraum aufwies, dass eine dysthymische Semiotikerin darüber hätte diskutieren können, wenn sie die Energie aufgebracht hätte. Denn es gab durchaus etwas, das sie genoss, oder besser: genossen hätte, ob sie es sollte oder nicht. Sie hatte nur keinen Zugang dazu. Dieses Etwas war nämlich die Magie.
Die Welt um sie, die normale Welt, die profane Welt, war für sie zu einer bedrückenden Einöde geworden. Sie war leer, eine postapokalyptische Szenerie: leere Geschäfte, leere Häuser, ausgebrannte Schrottautos, kaputte Ampeln, die keinen Verkehr mehr regelten. Dieser fehlende Novembernachmittag hatte sich zu einem schwarzen Loch entwickelt, das den ganzen Rest ihres Lebens in sich hineingesaugt hatte, und wenn man einmal durch diesen Schwarzschild-Radius gefallen war, fand man kaum noch den Weg zurück.
Julia druckte die erste Strophe eines Gedichts von John Donne aus und klebte sie an ihre Zimmertür:
Die Sonne siecht, nur Funken stiebt
Ihr Brand; ihr steter Glanz versagt;
Der Saft des Lebens sank;
Allbalsam, den die Erde gierig trank.
Grabwärts, wie in den Fuß der Totenbank,
Wich, was noch lebt; doch gegen mich
Lacht diese Welt, ich bin ihr Grabgedicht.
Offenbar war das Semikolon im siebzehnten Jahrhundert gerade en vogue gewesen.
Ansonsten beschrieb das Gedicht ziemlich genau ihren Gemütszustand. Die gierig trinkende Erde, doch der Saft des Lebens sank: zurück blieb nur eine trockene, gewichtslose Hülle, eine abgestorbene Haut, die bei Berührung zerkrümelte.
Einmal in der Woche fragte ihre Mutter sie, ob sie vergewaltigt worden sei. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn sie ja gesagt hätte. Ihre Familie hatte sie nie richtig verstanden und stets in Angst und Schrecken vor ihrem unersättlichen Intellekt gelebt. Ihre vier Jahre jüngere Schwester, eine ängstliche, aufreizend unmathematische Brünette, schlich auf Zehenspitzen um sie herum, als sei sie ein wildes Tier, das tollwütig zuschnappt, wenn man es provoziert. Keine plötzlichen Bewegungen. Nicht die Finger durch die Gitterstäbe stecken.
Julia hielt es tatsächlich für möglich, dass sie verrückt geworden war. Welcher vernünftige Mensch (ha!) hätte nicht daran gedacht? Auf jeden Fall sah sie verrückter aus als früher. Sie hatte einige schlechte Gewohnheiten angenommen, etwa, an ihrer Nagelhaut zu knibbeln oder nicht zu duschen, und im Übrigen nicht zu essen und tagelang ihr Zimmer nicht zu verlassen. Offenbar – so erklärte Doktor Julia sich selbst – litt sie unter einer Harry-Potter-bedingten Halluzination mit paranoiden Untertönen, höchstwahrscheinlich schizophrenen Ursprungs.
Allerdings, Frau Doktor, war ihre Vorstellung ein bisschen zu plastisch. Sie besaß nicht die Eigenschaften einer Halluzination, dazu war sie zu nüchtern und greifbar. Außerdem war sie die einzige Halluzination und griff nicht auf andere Bereiche des Lebens über. Ihre Grenzen waren stabil. Nein, es war keine Halluzination. Der ganze Scheiß war tatsächlich passiert!
Wenn es sich um Wahnsinn handelte, war es eine ganz neue Form, die bisher in den einschlägigen Psychiatrie-Handbüchern fehlte. Sie hatte Nerdophrenie. Sie war idiotophobisch.
Julia trennte sich von James. Vielleicht hörte sie auch einfach nur damit auf, seine Anrufe zu beantworten oder ihn zu grüßen, wenn sie sich auf dem Flur begegneten. Wie es genau gekommen war, hatte sie vergessen. Sie berechnete überschlägig ihren Notendurchschnitt, der bisher äußerst solide gewesen war, und kalkulierte, dass sie nur noch zwei Tage pro Woche zur Schule gehen und
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