Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
Richmond mit einer Hand fest umklammerte. Jetzt beugten sie sich gemeinsam über den Stadtplan wie alle anderen Touristen auf dem Platz, bis sie herausgefunden hatten, wo sie sich befanden und wohin sie gehen mussten. Ihr Ziel lag in einem Viertel namens Dorsoduro, einige Straßen vom Canal Grande entfernt. Es war nicht weit, sie mussten nur eine Brücke überqueren.
Quentin vermutete, dass es ihrer inneren Uhr nach etwa neun, zehn Uhr abends war, während in Venedig die helle Nachmittagssonne schien. Er hatte das Gefühl, seit Tagen ununterbrochen auf den Beinen zu sein. Auf dem Platz war es heiß, oben auf der Brücke jedoch kühl, weil vom Meer her der Wind über den Canal Grande hereinwehte. Quentin und Julia blieben stehen, um sich zu orientieren. In Venedig fuhren keine Autos, jedenfalls nicht in diesem Teil. Die Brücke war eine enttäuschend moderne hölzerne Konstruktion für Fußgänger, die noch mindestens hundert Jahre brauchen würde, bis sie aussah, als gehöre sie zu Venedig.
Unter ihnen fuhren ölig-schwarze Gondeln vorbei, in deren Kielwasser sich Ministrudel kräuselten. Daneben tuckerten gedrungene Vaporetti einher, und langgestreckte, schmale Boote glitten vorüber, die das grüne Wasser hinter ihnen zu milchigem Schaum aufwühlten. Heruntergekommene, schiefe Palazzi säumten den Kanal, geprägt von Kacheln, Balkonen und Säulen. Venedig war nach Quentins Erfahrung die einzige Stadt, die in der Wirklichkeit genauso aussah wie auf Bildern. Wie tröstlich, dass wenigstens etwas in dieser Welt den Erwartungen entsprach. Quentin konnte sich im Zusammenhang mit dem Canal Grande nur an eine Fußnote der Geschichte erinnern: Lord Byron pflegte nach den Schäferstündchen mit seinen Mätressen auf diesem Weg nach Hause zu schwimmen, in einer Hand eine brennende Kerze, damit ihn die Boote nicht überfuhren.
Quentin fragte sich, was in Fillory geschah. Ob die anderen auf der Jenseits-Insel auf ihn warteten? Ob sie nach ihm suchten? Die Einheimischen verhörten? Oder würden sie nach Whitespire zurücksegeln? Egal was, es würde bereits geschehen sein. Ganze Wochen konnten inzwischen vergangen sein oder sogar Jahre; man wusste nie, wie sich der Zeitunterschied auswirkte. Er spürte, wie Fillory von ihm forttrieb, weiter in die Zukunft, und ihn zurückließ. Nachdem sie verschwunden waren, musste helle Aufregung geherrscht haben, doch das Leben ging weiter, und der Alltag würde wieder einkehren. Möglicherweise wurden Janet und Eliot ohne ihn alt werden. Sie würden ihn vermissen, aber weiterleben. Quentin, der König von Fillory, brauchte Fillory mehr als Fillory ihn.
Anders als die Gegend, aus der sie gekommen waren, waren die Straßen in Dorsoduro schmal und still und ähnelten mehr einer richtigen Stadt als einer Filmkulisse. Hier schienen die Leute zu leben und zu arbeiten und nicht nur eine Show für die Touristen abzuziehen. Obwohl Quentin am liebsten hindurchgeeilt wäre, um so schnell wie möglich nach Fillory zurückzukehren, bewunderte er unwillkürlich die berühmte Schönheit der Serenissima. Hier lebten Menschen schon seit tausend Jahren – oder länger? Und obwohl es, Gott weiß, eine verrückte Idee war, eine Stadt mitten in einer Lagune zu erbauen, sprachen die Resultate für sich. Alles bestand aus alten Ziegeln und Steinen, in unregelmäßigen Abständen von dekorativen Reliefs aus noch älteren Steinen unterbrochen. Alte Fenster waren zugemauert und neue in die Wände geschlagen worden, durch die man Blicke in stille, verborgene Höfe erhaschte. Jedes Mal, wenn sie dachten, das Meer hinter sich gelassen zu haben, standen sie plötzlich erneut vor einem dunklen, begradigten Wasserweg, der das Viertel durchschnitt, auf beiden Seiten flankiert von bunten Ruderbooten.
Schon allein der Aufenthalt hier wirkte auf Quentin erholsam. Diese Umgebung passte viel besser zu einem König von Fillory als die Vorstädte Bostons. Zwar wusste er noch nicht, ob sie Fillory irgendwie näher kamen, aber er fühlte sich ihm näher.
Julia schritt weiterhin energisch voran, ohne nach rechts oder links zu sehen. Es hätte ein kurzer Spaziergang sein sollen, höchstens zehn Minuten, aber die Straßen waren so chaotisch angelegt, dass sie buchstäblich an jeder Ecke anhalten und sich neu orientieren mussten. Abwechselnd riss der eine dem anderen den Plan aus der Hand, verirrte sich und musste den Plan wieder hergeben. Nur ungefähr eines von fünf Gebäuden trug eine Hausnummer, wobei die Nummern nicht
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