Filzengraben
nicht verstand. Faustino war nicht so feige gewesen wie er. Aber am nächsten Morgen fanden sie seinen schmächtigen Körper im Schnee. Um ihn herum Wolfsspuren. Auf dem weiÃen Boden war das Blut zu krausen Mustern gefroren.
Also war er mit den anderen mitgegangen, wenn sie irgendwo einsteigen und nach silbernen Tellern, Geld und Schmuck suchen sollten. An ertragreichen Tagen fielen die Brot- und Käseportionen gröÃer aus als sonst, und er hörte auf, nachzudenken. Wenigstens war er nie allein, wenn er nach getaner Arbeit mit den anderen Schornsteinfegerjungen nachts in einem Stall, in einer Hütte lag. Manchmal fing dann Pierino mit seiner hellen Stimme zu singen an, oder Giuseppe machte die Töne nach, die er einmal gehört hatte, als er mitten in einem Kamin steckte. Er wollte herausfinden, was es mit den seltsamen Geräuschen auf sich hatte, kletterte vorsichtig nach unten und überraschte die Hausfrau im Bett mit einem Mann. Weià wie Milch sei ihr Busen gewesen, flüsterte er heiser. Sie konnten diese Geschichte immer wieder hören, dann quiekten und stöhnten sie mit Giuseppe um die Wette und hielten sich die Bäuche vor Lachen.
Er dachte an die Rothaarige, während der Römer ihm erklärte, was er zu tun habe. Wenn er nicht sofort Zustimmung erkennen lieÃ, drückte ihm der andere das Messer zwischen die Rippen oder fuhr ihm mit der Klinge sanft den Hals entlang.
Der Römer goss die Becher voll, die sie mitgebracht hatten. Dann beugte er sich vor, seine Augen formten sich zu schmalen Schlitzen.
»Du warst doch sicher mal Spazzacamino ? Oder wie sagt man dort bei euch in den Bergen? Rüsca , habe ich mir sagen lassen, ja? Hab ich doch richtig geraten. Ich habâs dir an den Händen angesehen.« Giacomos Gesichtsausdruck schien ihn zu belustigen, er griente höhnisch.
»Dann bist duâs ja gewohnt, die Drecksarbeiten zu machen. Und wenn dir dein Leben lieb ist, mach sie gut!«
Der Wein roch nach Essig. Giacomo trank.
Es lief alles viel leichter, als er gedacht hatte.
Eine Stunde nach Sonnenaufgang stand er am nächsten Morgen an der Ecke Unter Goldschmied. Farinas Französisch Kramladen war noch geschlossen, aber durch Obenmarspforten schnauften Sackträger hinunter zum Hafen und keuchten mit neuer Ware zurück in die Stadt. Eierverkäuferinnen balancierten ihre zerbrechliche Ware zum Alter Markt. Korbmacher schoben sich mit hoch beladenen Karren durch die Menge. Frechener mit irdenem Geschirr bahnten sich ihren Weg. Ãlhändler und Gewürzkrämer waren unterwegs, ein Kuchenbäcker, Fleisch- und Fischhändler, nur selten ein Bauer, für frisches Gemüse war es noch zu früh im Jahr. Gegenüber auf dem Jülichplatz stand ein rechteckiger Steinsockel, aus dem ein Eisenstab herausragte. Darauf aufgespieÃt der in Bronze gegossene Kopf eines Mannes. Niemand achtete auf das Schandmal. Niemand interessierte sich für Giacomo.
Als der Fuhrknecht mit seinem Paket auftauchte, stellte er sich ihm in den Weg, noch bevor dieser an Farinas Tür klopfen konnte, schnauzte ihn an, wo er denn so lange bliebe, der Herr warte schon ungeduldig, nahm ihm die Kiste ab, kritzelte ein paar Striche auf die Empfangsbestätigung, die ihm der Bote völlig verdattert hinhielt, und verschwand drei Häuser weiter in einem Hauseingang. Das Ganze hatte kaum länger gedauert, als ein Schulkind bräuchte, um bis zehn zu zählen.
Eine Weile blieb Giacomo in seinem Versteck. Dann buckelte er sich den Kasten auf die Schulter und machte sich davon. An der nächsten Ecke drehte er sich noch einmal um. Der hochnäsige Ladendiener stand unter der Tür und musterte jeden Fuhrmann, der mit seinem Karren vorüberholperte.
»Da kannst du lange warten.« Giacomo kostete seine Schadenfreude voll aus.
Wie der Römer den Hinweis auf die Lieferung für Farina bekommen hatte, wollte er nicht wissen. Auch nicht, was sich in der Kiste befand. Als sie ihm gesagt hatten, er solle den Kerl abpassen â sie nannten es: die Ladung in Empfang nehmen! â, hatte er nicht lange überlegt. Gift und Galle würde der Kaufmann spucken und es den Lackaffen von Diener hoffentlich tagelang spüren lassen.
An mindestens acht oder neun Kirchen war er vorbeigekommen. Irgendwann hatte er die Gasse überquert, in der er unfreiwillig die Nacht verbracht hatte. Von dort sollte er noch einmal ein gutes Stück
Weitere Kostenlose Bücher