Filzengraben
fragte er nicht.
Der Bastard war nur kurz aufgetaucht, hatte mit Cristina getuschelt, dann waren beide nach drauÃen verschwunden. Er hätte sie ohnehin nicht nach dem toten Kind gefragt. Griet war die Einzige, der er halbwegs vertraute, sie hätte ihm vielleicht erzählt, wenn sie etwas wüsste.
Obwohl er noch hellwach war, legte er sich bald hin. Eine Wolke von Kohlgeruch, Rübendunst und fettiger Brühe waberte über den Hof und durch die Ritzen seines Verschlags. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, dennoch verspürte er keinen Hunger. Im Nachbarhof verbrannte jemand Unrat, Gemüseabfälle, Reste von Knochen, Fischgräten. Der Gestank vermengte sich mit den Essensdünsten zu einem widerlichen Brodem. Giacomo zog die Decke über die Nase. Es roch muffig darunter. Er öffnete den Mund, um ohne zu riechen atmen zu können, und schloss die Augen.
Er sitzt am Feuer, neben ihm die Geschwister. Giovanna, Rosa, Matteo, Carlotta und Angelino. Sie werfen Maronen in die Flammen und fischen sie mit einem langen Stock wieder heraus, sobald die Schalen geplatzt sind. Mehlig-süà schmeckt die Frucht, und sie macht satt. Angelino plärrt, die Kastanien seien zu heiÃ, er könne sie nicht anfassen. Die Eltern verwöhnen Angelino, wie sie sonst keines ihrer Kinder verwöhnen. Selbst die sanfte Giovanna zieht manchmal ungeduldig die Augenbrauen hoch, aber dann pult sie dem Kleinen, dem gugnin , doch die Kerne aus der schwarz gebrannten Schale. Und Angelinos Augen beginnen wieder zu strahlen, er schluchzt noch ein wenig, dass es einen Stein erweicht, und langt dann gierig nach der Leckerei. Man kann ihm nicht böse sein.
Vielleicht gab es gar kein totes Kind? Vielleicht war es nur eine Lügengeschichte, die der Dreckskerl von Tilman ihm aufgetischt hatte, um ihn übers Ohr zu hauen. Aber es war ihm nicht gelungen! Er tastete nach seinem prall gefüllten Sacchetto und band ihn sich zum Schlafen um die Brust.
Morgen würde er früh aufstehen müssen, nach Brühl war es ein weiter Weg.
EINUNDZWANZIG
»Fünf, elf, siebzehneinhalb â¦Â«
Mit gespitzter Feder tippte Anna die Zahlenkolonne entlang und rechnete die einzelnen Posten zusammen. Zuerst von oben nach unten und danach umgekehrt, von unten nach oben.
»Sechsundsiebzigeinhalb!«
Das konnte nicht sein, jedes Mal bekam sie etwas anderes heraus. Wütend kratzte sie sich am Kopf und fing wieder von vorn an.
Sie war unaufmerksam, den ganzen Morgen schon. DrauÃen war es grau und trüb, Regentropfen schlugen gegen die Fenster, und wenn sie hochblickte, sah sie drüben auf der anderen StraÃenseite wieder Passanten stehen, die sich in den Säulengang der »Gelben Lilie« gerettet hatten. Genau wie vor über einem Monat, als sie dort den langen Welschen entdeckte.
Er war also nicht der Täter.
Wieder versuchte sie, sich auf ihre Rechnungen zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften ab. Auffällig schnell hatte er gestern Abend die StraÃe überquert, nachdem er sie erkannt hatte. Sein Gang war leicht und geschmeidig gewesen, fast federnd. Und er trug dieses Mal nichts bei sich, das seine Art zu gehen hätte beeinflussen können. Zu dumm, dass Tilman nicht bei ihr gewesen war. Wo der sich nur herumtrieb? Eine ganze Stunde lang hatte sie überlegt, ob sie sich über alle Etikette hinwegsetzen und sich auf die Suche nach ihm machen sollte. Dann hatte sie es einfach getan. Fast bis neun Uhr war sie unterwegs gewesen, war alle Stellen abgelaufen, wo er sonst zu finden war, wenn sie ihn für eine Arbeit im Haus brauchten. Im Kirchhof, wo er vielleicht auf einen Happen zu essen wartete, auf der Bank am Holzmarkt, weiter unten an der Nächelskaulenpforte. Sie hatte sogar seine Wirtin in der Holzgasse herausgeklopft, aber vergebens. Sie kümmere sich nicht um den alten Rumtreiber, hatte diese gesagt und die Nase hochgeschnupft. Hauptsache, er mache seine Arbeit.
Aber auch ohne Tilman war sich Anna sicher, dass dieser Fremde nicht der Mörder von Moritz und Cettini war. Sie sah Tilman noch vor sich, wie er neulich in der Küche auf und ab ging; dieser Welsche lief anders. Ãbrigens, der könnte auch mal neue Schuhe gebrauchen.
Sie blätterte lustlos in den Lieferpapieren.
Sollten sie die ganze Zeit einer falschen Fährte nachgegangen sein? Vielleicht hatte Farina doch damit zu tun? Er hielt sich seltsam bedeckt, hatte keinen Ton zu Moritzâ
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