Filzengraben
das Fichu locker um den Hals gelegt. Als sie danach griff, damit es nicht herunterfiel, verrutschte ihr schmaler silberner Armring.
Er hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet.
»Du hast etwas zu verschicken?«, fragte sie, während sie abwartend unterm Eingang stehen blieb.
»Ich möchte wissen, was mit â¦Â«, er zögerte, »â¦Â was mit Moritz passiert ist.«
»Mit Moritz?« Sie stotterte. Ihre Augen verloren den Geschäftsblick, sie hielt sich an der Tür fest. »Was weiÃt du von Moritz?«
»Nichts. Oder vielleicht doch«, antwortete er ausweichend.
»Komm herein!«, sagte sie schlieÃlich.
Es war still im Haus. Nur gedämpft drangen die StraÃengeräusche durch die Fenster in den Vorraum. Vom Hinterhaus, wo die Küche liegen musste, kam der Geruch von Hühnerbrühe. Giacomo wurde schwindelig, er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Die junge Frau setzte sich hinter den breiten Schreibtisch und zeigte auf den Besucherstuhl, der davor stand. Er nahm Platz. Sein Blick fiel auf die Truhe, die am ersten Tag seine Neugier erregt hatte. Ob es möglich war, ein ehrliches Leben zu leben? Wenn er den Tod dieses Kindes aufklären und seine Mörder an den Galgen bringen könnte, dann ⦠Dann würde er ein neues Leben anfangen. Vielleicht.
»Erzähl!«, hörte er sie sagen. Er fühlte sich ertappt. Als wenn sie seine Gedanken lesen könnte.
»Wer war Moritz?«, fragte er.
»Ich dachte, du kanntest ihn.«
»Nein. Aber ich habe von seinem Tod gehört.«
Sie glaubt mir nicht, dachte er, aber er wunderte sich nicht darüber. Es hatte nur wenige Menschen gegeben, die ihm nicht mit Misstrauen begegnet waren. Die Gentildonna war so jemand gewesen. Und Tilman. Wieder stiegen Wut und Enttäuschung in ihm hoch. Dann begann er zu berichten. Es war das Einzige, was er machen konnte, damit sie ihm glaubte.
Er begann mit dem Römer, den sie den Dottore nannten, und dessen Aqua mirabilis, das sie von Mülheim her kannte. Warum sollte er es leugnen? Einzelheiten verschwieg er. Griet zum Beispiel, und wo er wohnte. Und er hielt es für überflüssig, ihr zu erklären, woher die Ingredienzien kamen. Sie fragte auch nicht danach, überhaupt unterbrach sie ihn kaum. Nur hin und wieder, wenn sie die Zusammenhänge nicht sofort verstand. Er war ein ungeübter Erzähler.
Irgendwann kam er auf Tilman zu sprechen. Seine Stimme bekam einen harten Unterton. Wieder gab es ihm einen Stich, aber jetzt lieà er nichts aus. Auch nicht das Essen von der Armenbank.
Sie fuhr erschrocken hoch. »Hast du Hunger?«
Eine Antwort wartete sie gar nicht erst ab.
»Resa«, rief sie nach hinten, und als die Magd kam, die ihm die Tür geöffnet hatte, bat sie sie, dem Besucher eine Schüssel mit Suppe zu bringen.
»Und vergiss das Brot nicht!«
Er aà verlegen, weil er merkte, wie sie ihn beobachtete. Als die Schale halb leer war, machte er eine Verschnaufpause. Danach löffelte er langsamer. Er verbot es sich, ein zweites Mal zum Brot zu greifen.
Die Ohrfeige brennt. Vor Schreck fliegt ihm der Kanten Schwarzbrot aus der Hand und in die hinterste Ecke der Küche. Er wagt nicht hinzugehen, um ihn aufzuheben. Er spürt alle fünf Finger der Köchin auf seiner Wange.
»Und wenn du noch ein einziges Mal in diesem Hause Essen klaust, dann hast du das letzte Mal unsere Ziegen gehütet«, schreit ihn die dicke Caterina an und wischt sich die schmutzigen Finger an der weiÃen Schürze ab. »Hast du verstanden?«
Er ist sechs Jahre alt, und er hat verstanden. Sein Gesicht glüht. Der Hunger nagt in seinen Eingeweiden. Der dünne Polentabrei vor ihm dampft, ganz langsam kratzt er die Schüssel aus, die sie ihm zuvor hingestellt hatte. Auf den Tisch neben den Brotkorb. Danach wird er das Vieh auf die Sommerweide treiben. Für das Geld, das er zu Beginn des Herbstes erhalten wird, kauft die Mutter Mehl, dunkles Roggenmehl, wie sie es fürs Pane nero braucht. Noch bevor das Jesuskind kommt, wird in Druogno im Backhaus gebacken.
Er hätte gern noch einmal zugelangt, aber er schob den Napf zur Seite und bildete sich ein, dass ihm die Hose überm Bauch spannte.
»Du hast gesagt, dieser Tilman hat dir den Tod von Moritz in die Schuhe geschoben«, fing die junge Frau wieder an.
»Ja, aber ich war es nicht. Ich wusste nicht einmal etwas von einem
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