Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Rektaltemperatur der Leiche gemessen. Da waren es noch immer siebenunddreißig Grad Celsius.« Er legte den Bericht auf den Tisch zurück. »Geht man davon aus, dass die Körpertemperatur einer Leiche bei normaler Raumtemperatur drei Stunden lang konstant bleibt und dann jede Stunde um ein Grad sinkt, liegt der Todeszeitpunkt seit Auffindung höchstens drei Stunden zurück, vielleicht weniger.«
»Der Täter wird übermütig«, sagte Clara. »Er tötet jemanden und verständigt die Polizei innerhalb von Stunden.«
»Er kann es sich offenbar leisten«, sagte von Weinstein, »denn wir haben ihn ja leider immer noch nicht.« Er rückte seine Brille zurecht. »Aber noch kurz zur Todeszeit: Es sind kaum Leichenflecken zu sehen, keine Blutansammlungen an der Rückenpartie, wie zu erwarten ist, wenn Leichen längere Zeit liegen. Aber diese Indizien wären ohnehin nicht zielführend, weil ...«
»... weil der Täter ihr das Blut abgezapft hat?«, fragte Clara. »Wie bei Jasmin Peters?«
»In jedem Fall sind Gesicht und Körper von einer unnatürlichen Blässe, selbst für eine Leiche. Von daher denke ich, dass kaum noch Blut vorhanden ist.« Von Weinstein streifte sich die Gummihandschuhe über, stach mit einem Skalpell in die Oberschenkelarterie und drückte mit der Hand am Verlauf des Blutgefäßes entlang. Ein paar Blutstropfen kamen durch den Druck aus der Wundöffnung heraus, mehr nicht.
»Die Oberschenkelarterie ist neben der Unterleibsarterie die größte Blutversorgungsbahn des Körpers.« Er wischte das Blut an einem Papiertuch ab. »Und hier ist so gut wie nichts.«
»Das erhärtet unsere Theorie des Opferrituals«, sagte MacDeath, der mit verschränkten Armen vor der Leiche stand. »Und das weiße Nachthemd scheint mir auch nicht zufällig zu sein.«
»Warum nicht?«, fragte Clara.
»Laut Bericht der Kriminaltechnik wurden keine Spuren von DNA an dem Nachthemd gefunden. Ein paar Hautschuppen von der Toten, mehr nicht.« Von Weinstein zog den Bericht hervor. »Das könnte bedeuten, dass der Täter das Nachthemd extra besorgt hat, um die Tote so herzurichten.«
»Das nennt man in der Forensik ›Undoing‹«, sagte MacDeath. »Indem er die Leiche so herrichtet und sie mit einem weißen Nachthemd und gefalteten Händen auf das Bett legt, möchte er sich bei ihr entschuldigen. Er will sein Tun gutmachen.«
»Die These von dem großen Opferritual, das bald vorbei ist?«, fragte Clara.
»Je näher er dem Finale kommt, desto größer wird die Identität zwischen den Opfern, die er darbringt, und der Person, für die diese Opfer bestimmt sein könnten.«
MacDeath nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.
»Und da ist noch etwas«, sagte Clara und sprach erst weiter, als alle sie erwartungsvoll anschauten. »Beziehungsweise da ist nichts.«
»Nichts?«, fragte von Weinstein.
»Etwas fehlt.«
»Ja.« Von Weinstein wies mit dem Stab auf die Halspartie. »Der Kopf.«
»Der Kopf.« Clara nickte. »Und die Käfer.«
»Verdammt, das stimmt«, sagte MacDeath, »es gab überhaupt keine Käfer.«
Von Weinstein nickte. »Es bestand vielleicht auch keine Notwendigkeit. Er hat die Käfer eingesetzt, um die Mumifizierung zu beschleunigen und so den Verwesungsgeruch zu vermeiden.« Sein Blick zog über die Leiche. »Wenn er die Polizei kurz nach dem Mord alarmiert, braucht er überhaupt nichts zu vermeiden außer seiner baldigen Festnahme.«
Clara biss sich auf die Lippe. »Schön wär’s«, sagte sie. »Aber er kann es sich leider immer noch leisten, uns wie Kleinkinder zu behandeln und trotzdem nicht erwischt zu werden. Einerseits eiskalt und dennoch unvorsichtig.« Sie schaute MacDeath an. Der nickte. »Dieser Irre ist voller Widersprüche.«
»Und der abgetrennte Kopf?«, fragte von Weinstein. »Das sieht auch nicht nach ›Undoing‹ aus.«
MacDeath zuckte die Schultern. »Vergessen wir nicht: Wir haben es hier mit einem Psychopathen zu tun. Zu viel Rationalität dürfen wir da nicht erwarten.«
Clara dachte an das Gespräch mit MacDeath über ihre Rolle als Richterin – die Theorie, nach der sie die Mordserie des Namenlosen als Expertin und zugleich als Opfer mitverfolgen sollte.
»Vielleicht hat der Kopf selbst eine Bedeutung?«, fragte sie.
»Möglich«, entgegnete von Weinstein, »aber was genau? Schrecken? Schock?«
»Eine Nachricht?«, fragte Clara. Irgendwie passte das blutige Gemetzel, das der Täter mit dem Kopf angestellt hatte, nicht zu der Sorgfalt, mit der er sein Opfer zurechtgemacht
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