Final Cut - Etzold, V: Final Cut
sehen war. Wie ein Junkie folgte sie der Animation der Aufnahme, die sich langsam nach oben schob und allmählich den Namen freigab, der auf dem Grabstein stand.
Das schlimmste Erlebnis in Claras Leben war der Tag gewesen, an dem sie vom Tod ihrer Schwester erfahren hatte.
Bis heute.
Sie hatte zwanzig Jahre gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Und innerhalb von zwei Minuten hatte der Killer alles zerstört.
Die Stimme schwieg, und das Bild erschien.
Und Clara las die Worte auf dem Stein, die sie so oft gelesen hatte und die sich dennoch in ihre Augen brannten wie ein Strahl aus flüssigem Plasma.
Claudia Vidalis
* 18. Juni 1982 † 23. Oktober 1990
Claras Hände lösten sich von der Tischkante, und sie sank ohnmächtig zu Boden.
Das Telefon klingelte immer noch.
Dritter Teil
TOD
Tu trembles, carcasse? Tu tremblerais bien davantage,
si tu savais où je te mène.
Du zitterst, Leiche? Du würdest noch mehr zittern, wenn du wüsstest, wohin ich dich führe.
Vicomte de Turenne
1.
Das Zimmer, in dem sie erwachte, war weiß. Weißer Boden, weiße Wände, weiße Jalousien, weiße Laken. Sie wusste sofort, dass es ein Krankenzimmer war.
Warum bist du hier?
Ihr Blick glitt über das weiße Bett, über das EKG, das ihre Herzfrequenz zeigte, und über die Wände bis zum Fenster, hinter dem sich eine große Eiche im Herbstwind bewegte. Ein paar Zweige schlugen leise gegen das Fenster wie die Finger eines gutmütigen Riesen.
Es mochte später Vormittag sein. Was war geschehen? Sie war doch gestern Abend noch in der Rechtsmedizin gewesen, dann in ihrem Büro und dann ...
Die Erinnerung traf sie mit der Wucht eines Vorschlaghammers.
Die Mail des Namenlosen.
Das Bild von Ingo M., der verbrannt auf dem Stuhl saß.
Das Foto vom Grabstein ihrer Schwester.
Clara fühlte sich wie ausgesaugt, als wären all ihre Energie, ihr Vertrauen und ihr Glaube an das Mögliche mit einem Schlag hinweggefegt worden. Der Killer hatte den Mörder ihrer Schwester getötet. Er hatte die Rache vollzogen, die sie, Clara, vollziehen wollte. Und auf einmal war dieses Scheusal, das ihre Schwester getötet und Claras Leben zerstört hatte, kurz aufgetaucht, um gleich darauf in der Totenwelt zu verschwinden. Und ihre Schwester lag nicht in dem Grab, vor dem sie so oft gestanden und geweint hatte. Clara wusste nicht einmal, was aus der Leiche ihrer kleinen Schwester geworden war.
Sie hatte den Grabstein gesehen. Das Foto, das der Killer offenbar auf der Festplatte von Ingo M. gefunden hatte.
Was war dann geschehen? Hatte sie das Bewusstsein verloren? War sie zusammengeklappt?
Clara war sicher, sie hatten ihr im Krankenhaus Beruhigungsmittel gespritzt, aber sie war trotzdem hellwach. Bevor es ihr bewusst wurde, drückte sie auf den roten Knopf an ihrem Bett und setzte sich aufrecht hin.
Nach kurzer Zeit steckte eine Krankenschwester den Kopf durch die Tür.
»Frau Vidalis, Sie sind wach«, sagte die Schwester.
»Allerdings.« Clara schaute über das Bett und den Nachttisch. »Ich muss sofort telefonieren. Wo ist mein Handy?«
»Sie hatten gestern Nacht einen Kreislaufzusammenbruch und waren dreißig Minuten bewusstlos. Dann wurden Sie hierhergebracht, sind kurz wach geworden und haben anschließend geschlafen«, sagte die blond gelockte Schwester und trat näher, wobei sie auf die Uhr blickte. »Elf Stunden, um genau zu sein. Sie müssen das Wochenende zur Beobachtung hierbleiben.«
Es war Samstag, wenn ihr Zeitempfinden sie nicht täuschte. Clara dachte an den Namenlosen, der sich das Wochenende bestimmt nicht freinehmen würde, nur weil sie im Krankenhaus lag.
Sie berührte mit den Füßen den Boden und löste die Kabel des EKGs, stand auf – und verlor beinahe das Gleichgewicht. Die Schwester eilte herbei und stützte sie.
»Um Himmels willen, Sie müssen liegen bleiben«, mahnte sie streng. »Sie müssen sich entspannen.«
»Angespannt fühle ich mich wohler«, sagte Clara und blickte sich um. »Rufen Sie wenigstens Herrn Winterfeld an, vom LKA. Er weiß, dass ich hier bin, oder?«
»Er war vorhin schon einmal da, aber Sie haben noch geschlafen«, sagte die Schwester, »gemeinsam mit einem Dr. Friedrich, auch vom LKA.« Sie machte eine Pause. »Besuch dürfen Sie empfangen, aber nicht zu lange. Vor allem dürfen Sie sich nicht aufregen. Wir wollen doch nicht, dass Sie noch einmal zusammenklappen, stimmt’s?«
»Ich klappe noch mal zusammen, wenn ich nicht mit Winterfeld sprechen kann«, sagte Clara. »Ich weiß, Sie
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