Final Cut - Etzold, V: Final Cut
die Firma hatte dem LKA das Fax mit der Bescheinigung geschickt.
Noch war das Opfer nicht identifiziert, doch Clara ging im Kopf die Möglichkeiten durch. Hatte Kürten den Mann zu irgendwelchen Spielchen eingeladen, ihn auf das Bett gefesselt und dann getötet? In der Lederhose, die die völlig ausgetrockneten Beine der Leiche umschlossen hatte, waren vertrocknete Reste von Spermien gefunden worden. Das Opfer hatte vor seinem Tod einen Orgasmus gehabt.
Kürten hatte Sex mit seinen Opfern. Und dann hat er sie getötet.
Clara schaute auf das braun gebrannte Gesicht, die dunklen Haare, die ein wenig verschmitzt blickenden Augen.
Jakob Kürten.
Dass das Böse in so freundlicher Gestalt erscheinen konnte, war für Clara in ihrem Beruf zwar keine Überraschung, doch diesmal war sie besonders schockiert. Die dunkle U-Bahn war wieder einmal aus dem Untergrund ans Licht gekommen und hatte sich für wenige Augenblicke gezeigt, bevor sie erneut in die tiefsten Abgründe der Finsternis abgetaucht war.
Noch einmal schaute Clara sich ein Foto nach dem anderen an, während die Leiche in der Rechtsmedizin obduziert wurde und sie hier warten musste, bis ermittelt war, wessen Leben Jakob Kürten in dieser Wohnung zerstört hatte.
Als Kinder wissen wir, dass der Schwarze Mann existiert , ging es Clara durch den Kopf. Wir wachen nachts auf, und da ist irgendetwas. Es ist nicht der Kleiderschrank, der dort in der Ecke steht, es ist nicht der Drachen, den wir mit Papa am letzten Sonntag haben steigen lassen und der jetzt neben der Balkontür hängt. In der Dunkelheit der Nacht sind es Kreaturen, von denen wir Kinder wissen, dass sie sich unserem Bett nähern, wenn wir schlafen und dass sie innehalten, sobald wir aufwachen. Wir wissen, dass sie im Kinderzimmer lauern, hinter der Tür, auf dem Balkon, unter dem Bett.
Sie sah das Gesicht ihrer Schwester Claudia vor sich, der sie immer Gutenachtgeschichten erzählt hatte. Märchen von Prinzen und Drachen.
Gibt es die Drachen wirklich?, hatte Claudia gefragt.
Nein, die gibt es nicht, war Claras Antwort gewesen.
Aber hier gibt es sie, hatte Claudia gesagt und sich an den kleinen Kopf getippt.
Da hast du recht, hatte Clara gesagt.
Aber wenn es die hier gibt, wieder fasste Claudia sich mit der kleinen Hand an den Kopf, muss es sie doch auch in Wirklichkeit geben.
Clara musste die Tränen zurückhalten, wie immer, wenn sie an ihre kleine tote Schwester dachte. Warum können wir uns Dinge vorstellen? Weil wir Dinge aus dem Nichts erschaffen können? Nein. Alles, was in unserer Vorstellung existiert, gibt es auch in der Realität.
Clara hatte es gesehen. Snuff-Videos, CDs, auf denen ein Mord festgehalten wurde, Menschen, die seit Monaten tot waren und die alle für lebendig hielten.
Als Kind war ihr Glaube berechtigt gewesen, dass der Drachen an der Balkontür kein Drachen war, den sie in der Schule im Werkunterricht gebastelt hatten, sondern bei Nacht eine böse Echse, die aus der Finsternis heraus ihren Hals gierig ins Zimmer reckte.
Als Kinder wissen wir, dass der Schwarze Mann unter dem Bett liegt und darauf wartet, hervorzukommen, obwohl unsere Eltern uns immer wieder sagen, dass es ihn nicht gibt, dass er ein Märchen ist und dass er niemals kommen wird. Und irgendwann glauben wir es dann. Aber ist es auch die Wahrheit?
Der brutale Mord auf der CD, die mumifizierte Jasmin Peters, der anonyme gefesselte Tote auf dem Bett in der Oranienstraße – Clara wusste, dass die Kinder recht hatten: dass es den Schwarzen Mann wirklich gab. Und was immer die Eltern auch erzählten, er lag tatsächlich unter dem Bett. Er hatte dort immer schon gelegen und lag noch immer an dieser Stelle, und irgendwann kam er hervor, erhob sich und beugte sich über uns.
Textzeilen eines Songs von Metallica gingen ihr durch den Kopf.
Hush little baby, don’t say a word,
And never mind that noise you heard.
It’s just the beast under your bed,
In your closet, in your head.
Der Schwarze Mann.
Das Telefon schreckte Clara aus ihren Gedanken. Es war die Rechtsmedizin.
»Frau Vidalis?«, sagte von Weinstein.
In seiner Stimme lag etwas, das Clara nicht gefiel, doch sie konnte nicht sagen, was es war.
»Was gibt’s?«
»Wie man’s nimmt.« Von Weinstein machte eine seiner bedeutungsvollen Pausen. »Eine gute und eine schlechte Nachricht.«
Clara seufzte. »Heute brauche ich erst mal was Gutes.«
»Wir haben die Leiche identifiziert«, sagte von Weinstein.
»Das ist ja großartig!« Sofort war
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