Clara hellwach. »Lassen Sie hören.«
»Wir haben routinemäßig die DNA von Jakob Kürten, die wir am Tatort von Jasmin Peters gefunden haben, mit der DNA der Leiche auf dem Bett in Kürtens Wohnung verglichen.« Von Weinstein hielt kurz inne, schien nach Worten zu suchen. »Damit ergibt sich leider ein völlig neuer Sachverhalt.«
Clara wurde ein wenig ungeduldig. »Ich höre.«
Von Weinstein atmete tief ein.
»Der Tote ist kein Opfer von Jakob Kürten.«
Nun komm zur Sache! Clara zog die Augenbrauen zusammen. »Sondern?«
»Der Tote«, sagte von Weinstein, » ist Jakob Kürten.«
34.
Der Tote ist Jakob Kürten.
Der, den sie für den Killer gehalten hatte, war in Wirklichkeit das Opfer.
Und der Killer, unsichtbar und unfassbar, lief noch frei herum und plante wahrscheinlich seinen nächsten Schachzug.
Clara hatte viele Ungeheuer in Menschengestalt kennengelernt, doch dieser Killer war etwas Neues. Welche Präzision, welch verdrehter Verstand war nötig, um dem toten Jakob Kürten Hautteile abzuschürfen und diese im Zimmer von Jasmin Peters zu verteilen, damit die Spurensuche die scheinbare DNA eines falschen Täters fand? Welch perverser Perfektionismus, Kürten während einer homosexuellen Session zum Orgasmus zu bringen und die Spermien des einen Ermordeten dann in der Vagina des anderen Opfers zu platzieren, um eine Vergewaltigung vorzutäuschen und die Ermittler in die falsche Richtung zu lenken.
Und warum gab es von dem wirklichen Täter keine Spuren? Keine DNA? Keine Fingerabdrücke? Nichts?
Wie der Schwarze Mann, der unter dem Bett lauert, war er Teil der Nacht. Finster, formlos, ungreifbar und böse.
Clara fluchte, stand auf und packte ihre Sachen zusammen. Heute war nichts mehr zu machen. Sie würde mit dem Polizeischutz nach Hause fahren, sich noch einen Whisky einschenken und bis zum nächsten Morgen schlafen. Was hatte sie erreicht? Nichts. Wen hatte sie gefasst? Niemanden. Wen hatte sie beschützt? Keinen.
Sie wollte gerade ihren Laptop aus der Docking-Station nehmen, als sie sah, dass in den letzten fünf Minuten eine neue Mail eingegangen war. Es war 22.00 Uhr. Konnte das noch wichtig sein? Vielleicht war es Bellmann aus Wiesbaden, der ihr mitteilte, dass ihr Gespräch sich verschieben würde, da er diese Woche noch in Wiesbaden sei und sie danach ja Urlaub hatte.
Clara klickte in das Outlook-Programm und öffnete die Mail.
Betreff: An Clara Vidalis, LKA
Als sie den Absender sah, blieb ihr fast das Herz stehen.
[email protected] Eine Mail ohne Text.
Im Anhang eine Videodatei mit dem Namen »liesmichzuerst«.
Daneben ein PDF: »liesmichdanach«.
Ein kalter Schauer kroch Clara über den Rücken.
Wieder eine Botschaft von jemandem, der längst tot war.
War es wieder ein Film? Wieder ein namenloses Grauen, das auf Video festgehalten war?
Sie kümmerte sich nicht um Vorschriften, um Virenscan, um Benachrichtigung ihres Vorgesetzten. Wenn sie nicht sofort erfuhr, was sich hinter diesen beiden Dateien verbarg, würde sie den Verstand verlieren.
Mit schweißnassen Händen bugsierte sie den Pfeil der Maus auf die erste Filmdatei.
Liesmichzuerst.mpg
Sie machte einen Doppelklick. Der Player öffnete sich.
Ein schwarzes Bild.
Drei Sekunden. Vier. Fünf.
Dann kam die Aufzeichnung.
Doch es war kein Mord zu sehen. Nicht mehr.
Sie sah das Zimmer mit dem Bett, auf dem die mumifizierte Leiche von Jasmin Peters lag. Dann flog die Tür auf. Zwei schwarz gekleidete Männer stürmten ins Zimmer, Gewehre in der Hand. Kurz darauf erschienen zwei weitere Männer. Dann eine Frau.
Clara wusste bereits, wer diese Leute waren, doch der Gedanke war zu bizarr, zu schrecklich, um sich daran gewöhnen zu können.
Die Männer waren Philipp und Marc vom MEK, dann kamen Hermann und Winterfeld, und dann kam sie – Clara Vidalis.
Heute Morgen.
6.00 Uhr.
Das Bild wurde schwarz.
Dann erschien ein weiteres Zimmer.
An der Wand ein Andreaskreuz, daneben Handschellen, eine Gasmaske, Stiefel.
Das Zimmer von Jakob Kürten.
Wieder die zwei schwarz gekleideten MEK-Beamten.
Dann Hermann und Winterfeld.
Dann Clara.
Heute Abend.
20.00 Uhr.
Das Bild wurde schwarz.
Clara spürte, wie ihr die Magensäure wie flüssiger Stahl die Speiseröhre hinaufkroch und die Angst ihr die Luft aus den Lungen drückte.
Der Killer hatte sie gefilmt. Er hatte sie dorthin dirigiert, wo er sie haben wollte. Und er hatte genau gewusst, wo sie waren und wann.
Clara umklammerte die Maus mit ihren verschwitzten Händen