Final Cut - Etzold, V: Final Cut
wie Ihnen einiges bieten muss.« Er schaute kurz aus dem Fenster, bevor er weitersprach. »Wer mit Nicole Kidman ausgehen will, sollte ein bisschen mehr bieten als Cheeseburger und Dosenbier. Unser Killer will Ihnen auch mehr bieten.« Er kniff ein Auge zu.
Toller Vergleich , dachte Clara.
»Und das schafft er«, fuhr MacDeath fort, »indem er Sie zunächst mit diesem grauenhaften Mordvideo schockiert. Der zweite Schock folgt auf den ersten: Der Mord liegt bereits sechs Monate zurück. Sie und die Polizei waren also ein halbes Jahr lang völlig passiv. Und seien wir ehrlich: Wenn der Mörder nichts gesagt hätte, wüssten wir wahrscheinlich auch in einem weiteren halben Jahr noch nichts von dem Mord. Dann versucht er, etwas gutzumachen. Er gibt Ihnen das Gefühl, mehr zu wissen und dem Mörder einen Schritt voraus zu sein. Das Gefühl des Triumphs, das Ihnen sagt: ›Hurra, wir haben den Mörder. Es ist Jakob Kürten, wir wissen, wo er wohnt, und jetzt nehmen wir ihn hoch.‹ Damit will er Ihren Siegeswillen anstacheln, will Sie vorantreiben, will in Ihnen nicht primär einen Gegner, sondern vor allem einen Sparringspartner haben.«
Clara durchlief es eiskalt. »Dann macht er mich also zu einer Art Komplizin?«
MacDeath nickte ungerührt. »Richtig. Gleichzeitig will er die Autorität behalten. Und da sind wir bei der Macht. Reine Macht, die nicht einmal den Umweg über die Sexualität braucht.« Er zuckte die Schultern, während Clara auf dem vorderen Drittel der Stuhllehne saß und angespannt zuhörte. »Denn bevor Sie übermütig werden und ihn unterschätzen, zeigt er Ihnen mit der funkelnden Reinheit des Skalpells, dass Sie unrecht hatten und dass er Sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hat. Dass der, den Sie für den Mörder hielten, ebenfalls ein Opfer war.«
Clara atmete aus. Sie fand die Diskussion interessant, aber auch anstrengend. Besonders, weil sie immer ein wenig das Gefühl hatte, dass MacDeath neben dem Killer auch gleich sie noch mit durchleuchtete. »Warum tut er das?«
MacDeath trank wieder mit spitzen Lippen von dem Tee, der eigentlich gar nicht mehr so heiß sein durfte, als dass man dafür die Lippen spitzen musste, und blätterte durch die Unterlagen. »Erinnern Sie sich«, sagte er. »Das Opfer musste einen Text aufsprechen. ›Ich bin nicht die Erste, und ich bin nicht die Letzte.‹ Und: ›Ich bin bereits tot, doch das Chaos geht weiter.‹ Es liegt eine Art Prophezeiung darin und ein gewisser, nennen wir es mal, Verlautbarungscharakter. Und ...« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause.
»Und?«, fragte Clara.
»Und die Tatsache, dass er das Opfer ausgeweidet und mumifiziert hat, was glauben Sie?« Er schaute über den Tisch. »Warum hat er das getan?«
»Haben wir doch gesehen«, sagte Clara. »Damit die Leichen schnell vertrocknen und keinen Verwesungsgeruch verströmen.« Plötzlich huschte ihr wieder ein Gedanke durch den Kopf, so wie vorhin in ihrem Büro, etwas, von dem sie wusste, dass es wichtig sein könnte, das sie aber nicht zu greifen vermochte.
»Damit die Leichen nicht riechen, richtig«, sagte MacDeath, lehnte sich zurück und faltete die Hände. »Aber es hatte noch einen weiteren Nebeneffekt, der vielleicht nicht unerwünscht war.«
»Nämlich?«
»Er hat die Leichen ausgeweidet, wie wir festgestellt haben.« Er erhob sich und schaute auf Michelangelos Jüngstes Gericht . Clara folgte seinem Blick und sah den heiligen Bartholomäus, der gehäutet worden war und seine eigene Haut mit sich ins Himmelreich trug als Beweis für sein Martyrium.
MacDeath nickte. »Genau wie der heilige Bartholomäus auf diesem Gemälde seine abgezogene Haut mitnimmt, an der auch noch das Gesicht hängt. Übrigens ist es das Gesicht von Michelangelo selbst, als wollte er sich über den Umweg des Bartholomäus den Weg ins Himmelreich erschleichen, ohne Märtyrer zu sein.« Er zeigte auf die Stelle, die auch Clara betrachtete. »Genau wie Bartholomäus seine Haut mitnimmt, nahm der Killer das Blut und die Innereien seiner Opfer mit.« Er ging an dem Bild vorbei und postierte sich in einer Zimmerecke, neben dem Schrank, auf dem die Arzttasche und der Totenschädel standen, und verschränkte die Arme. »Typische Opferrituale. Blut und Innereien wurden seit Menschengedenken den Göttern dargeboten. Manche Organe, wie die Leber, der Magen und vor allem das Herz, hatten eine besondere Bedeutung. Menschliches Blut, das auf dem Altar verbrennt, von einem Menschen, der zu ebendiesem
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